Am Mittwochnachmittag korrigierte der Generalstab der südkoreanischen Streitkräfte (JCS) seine frühere Angabe zum nordkoreanischen Müll-Ballon-Angriff. Nicht wie zunächst geschätzt 150 Ballons mit gefüllten Abfallsäcken habe das Regime von Machthaber Kim Jong-un seit Dienstagnacht über die Grenzzone nach Südkorea treiben lassen. Sondern um die 260. Vor allem in der Grenzregion sei die schmutzige Fracht heruntergekommen und rund um die Hauptstadt Seoul. Aber auch an ganz anderen Orten, zum Beispiel in der Südost-Provinz Gyeongsangnam, Hunderte Kilometer von der Demilitarisierten Zone zwischen den beiden Koreas entfernt. Von größeren Schäden berichtete das Militär zunächst nichts. Der Vorfall war wohl eher kurios als gefährlich. Trotzdem waren die Südkoreaner bedient. Der JCS sprach von einem "unmenschlichen und vulgären Akt".
Es gibt schlimmere Waffen als mit Abfall beladene Ballons. Vielleicht können der Müllsäcke aus Nordkorea sogar dabei helfen, die Gesellschaft in der Parteidiktatur besser zu verstehen; was weggeworfen wird, erzählt doch immer auch etwas über Konsumverhalten und Lebenswandel eines Landes. Aber natürlich durfte die südkoreanische Armee den Vorfall nicht unterschätzen.
Man wusste ja zunächst gar nicht, was genau die nordkoreanischen Ballons ins Land brachten. Die Menschen in den betroffenen Gebieten wurden aufgerufen, die gelandeten Objekte auf keinen Fall anzufassen. Spezialeinheiten des Militärs sammelten sie ein, um sicherzugehen, dass sie nicht giftig, biologisch bedenklich oder radioaktiv waren. Fotos zeigten Drähte und elektrische Vorrichtungen an den Ballons - es gab deshalb Spekulationen, sie könnten mit einem Fernzünder für Bomben bestückt sein.
Vorerst wurde nichts Dramatisches gefunden. Es blieb bei der offiziellen Darstellung, dass die Müllsäcke vor allem Plastikflaschen, Batterien, Teile von Schuhen und Gülle enthielten. Und im unabhängigen Nordkorea-Portal NK-News beruhigte Eric Foley, Geschäftsführer der gemeinnützigen Christen-Organisation Voice of the Martyrs, alle, die Schlimmes befürchteten. Bei der Elektronik handle es sich eher "nicht um eine neue Welle fortschrittlicher Technologie", Nordkorea wolle einfach nur Aufsehen erregen. Eric Foley kennt sich aus mit Ballons. Seine Organisation lässt immer wieder Hightech-Wetterballons mit nicht brennbarem Helium steigen, um damit Bibeln nach Nordkorea zu den dort oft unterdrückten Glaubensgeschwistern zu schicken.
"Der Wind wird sich wieder drehen."
Die Geschichte der Ballon-Propaganda von Süd nach Nord und Nord nach Süd reicht zurück bis in den Korea-Krieg von 1950 bis 1953. Heute sind Ballons vor allem für Menschenrechts-Aktivisten in Südkorea das Verkehrsmittel der Wahl, um die Menschen auf der anderen Seite der Grenze mit regimekritischen Flugblättern und Produkten aus der kapitalistischen Konsumwelt zu versorgen. Für Nordkoreas Propaganda-Maschine sind solche Sendungen eine ernste Gefahr. Schon zwischen 2016 und 2018 revanchierte sich die Regierung in Pjöngjang mit Müll-Ballons. Jetzt also wieder.
Zuletzt hatte der prominente Kim-Jong-un-Kritiker Park Sang-hak erklärt, er habe 300 000 Flugblätter sowie 2000 USB-Sticks mit K-Pop und anderer südkoreanischer Musik mit Ballons aus Südkorea auf den Weg gebracht. Pjöngjang war wütend. Am Sonntag kündigte Nordkoreas Vize-Verteidigungsminister Kim Kang-il Vergeltung an mit "Bergen von Altpapier und Dreck". In der Nacht zum Mittwoch passte dann der Wind zu dem Vorhaben.
Diesmal habe Nordkorea besonders viele Ballons steigen lassen, stellte Südkoreas JCS fest. Und es werden wahrscheinlich nicht die letzten gewesen sein. Ein neuer Ballon-Schlagabtausch scheint in Gang gekommen zu sein. Südkoreas früherer Präsident Moon Jae-in hatte während seiner Amtszeit Ballon-Aktionen gegen Nordkorea per Gesetz verbieten lassen, damit sich Kim Jong-un nicht mehr ärgern muss. Aber im vergangenen Jahr kassierte das Verfassungsgericht das Gesetz wieder, weil es die Meinungsfreiheit verletze. Park Sang-hak kann Nordkorea also weiter ärgern mit seinen Ballons. Er hat auch schon Vergeltung für Pjöngjangs Vergeltung angekündigt. "In den vergangenen Tagen war der Wind günstig für Kim Jong-un", sagte er den NK News, "aber der Wind wird sich wieder drehen." Und auf Parks Vergeltung wird wahrscheinlich irgendwann die nächste aus dem Norden folgen.