Regierungskrise in Mazedonien:"Wenn Gruevski nicht zurücktritt, wird das hier die Hölle"

Protesters wave Macedonian and Albanian flags during an anti-government demonstration in Skopje

Am Sonntag nahmen mehr als 20 000 Menschen an Protesten gegen die Regierung teil.

(Foto: REUTERS)

Die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition in Mazedonien wird schärfer. Es wächst die Furcht vor einem Konflikt, der auf die Nachbarländer übergreift.

Von Nadia Pantel, Skopje

Es braucht Mut, um sich an diesem Sonntag vor das mazedonische Regierungsgebäude zu stellen. Seit Tagen warnen die staatstreuen - und somit die allermeisten - Medien vor einem blutigen Sonntag. Sie meinen damit nicht, dass den Polizisten, wie in den vergangenen Wochen oft, der Schlagstock zu locker sitzen könnte. Sie schreiben vielmehr, dass sich unter die Demonstranten Krawallmacher mischen könnten, Terroristen gar. "Meine Mutter hat mich angefleht, nicht hierherzukommen", sagt Elicabeta Bocinovska. Trotzdem hat sie es getan, wie Zehntausende andere. "Ich lasse mir von dieser Regierung nicht länger das Leben versauen."

Bocinovska ist 35 Jahre alt, hat einen zweijährigen Sohn und arbeitet für eine Organisation, die sich für eine bessere Sexualaufklärung einsetzt. Vor zwei Jahren hat sie sich das erste Mal richtig über die Regierung aufgeregt. Damals wurde ein Gesetz beschlossen, das es Frauen erschwert, abzutreiben. "Das Gesetz kam aus dem Nichts, niemand wurde befragt", sagt Bocinovska. Sie schnippt mit dem Finger. "Zack. So schnell geht hier Demokratie." Auf ihrem T-Shirt klebt ein Sticker: "Ostavka!" Zurücktreten!

Eines der ärmsten Länder des Balkans

Der, der bislang nicht zurücktreten will, ist Nikola Gruevski, einst politisches Wunderkind des Balkans. Als 29-jähriger Finanzminister begann er 1999, den Westen mit marktwirtschaftlichen Reformen zu beeindrucken. Durch seine Vorarbeit schloss das Land 2001 als erstes in der Region ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Seit 2006 ist er Premier. Dreimal wurde er mit großer Mehrheit wiedergewählt. Doch heute stehen 40 000 Demonstranten vor dem Regierungsgebäude und fordern seinen Rücktritt. Gruevski habe ein mafiöses System errichtet, sagen seine Kritiker vom Bündnis "Bürger für Mazedonien". Sie haben in Skopje die größte Kundgebung organisiert, die das Land in seinem 23-jährigen Bestehen erlebt hat.

Unzufrieden sind sie hier schon länger. Mazedonien ist eines der ärmsten Länder des Balkans: 30 Prozent der Menschen haben keine Arbeit. Die anderen verdienen im Durchschnitt nur netto 354 Euro im Monat. Doch damit aus der Unzufriedenheit eine Bewegung werden konnte, brauchte es Zoran Zaev, den Anführer der Sozialdemokraten (SDSM) und der Opposition.

Anti-government protesters are seen through an Albanian flag as they demonstrate in front of Prime Minister Nikola Gruevski's government office in Skopje

Demonstranten, fotografiert durch eine albanische Flagge, fordern den Rücktritt der Regierung.

(Foto: Marko Djurica/Reuters)

Zaev ist im Besitz von mehr als 670 000 abgehörten Telefongesprächen. Die Regierung soll die gesamte Elite des Landes belauscht haben. "Patriotische Mazedonier" hätten ihnen die entsprechenden Bänder zugespielt, sagt Zaev. Er nennt das Material "Bomben". Hör-Bomben, die er seit Februar nach und nach zündet. Das Material sei von ausländischen Kräften manipuliert, kontert Gruevski. Zaev sei ein Putschist, der das Land zerstören wolle. Dass es seine Stimme ist, die da auf den Bändern zu hören ist, bestreitet Gruevski nicht. Seinen Cousin, den Geheimdienstchef Saso Mijalkov, ließ Gruevski vergangene Woche gemeinsam mit der Innenministerin zurücktreten. Doch die Demonstranten in Skopje glauben nicht, dass sich dadurch etwas geändert hat.

Als Zaev seine Hör-Bomben-Kampagne begann, war die Aufregung zunächst nicht groß. Es war keine Neuigkeit, dass der Staat lauscht. "Wir ahnten, dass die Regierung uns abhört. Vieles haben wir ohnehin nicht mehr am Telefon besprochen", sagt Milan Zivkovic, der lange Sprecher des mazedonischen Gewerkschaftsverbandes war. "Was mich allerdings schockiert hat, ist, wie vulgär und menschenverachtend da am Telefon Politik gemacht wurde." In einem Gespräch scherzt Ex-Geheimdienstchef Mijalkov darüber, wie er einen politischen Gegner im Gefängnis vergewaltigen lassen wolle. In anderen Telefonaten geht es darum, wie man die Versiegelung von Wahlurnen am unauffälligsten brechen könne. Weiter geht es um einen mit Steuergeld erworbenen Luxus-Mercedes für den Premier, um einzuschüchternde Justizbeamte und zu protegierende TV-Journalisten. Die Proteste in Skopje begannen am 5. Mai. Da veröffentlichte Zaev ein Tonband, das belegen sollte, wie die Regierung 2011 vertuscht habe, dass Polizeibeamte einen 22-Jährigen zu Tode prügelten.

Sie feiern, weil sie zusammengehören

Macedonian full moon

Das Monument von Philipp II., Vater Alexanders des Großen, überragt die Proteste in Mazedonien.

(Foto: Georgi Licovski/dpa)

In Skopjes Innenstadt sind am Sonntagnachmittag keine Uniformen zu sehen. Viele Menschen haben gegen die Hitze Sonnenschirme in den Farben Mazedoniens aufgespannt. Als auch die Flagge der albanischen Minderheit in die Höhe gereckt wird, reagieren die Demonstranten mit demonstrativer Zustimmung. Applaus brandet auf, es ist ein Signal: Hier gehören alle dazu.

Slawen, aber genauso Albaner, Türken, Roma. Selten wird skandiert, meistens gejubelt. Was kommen soll, wenn Gruevski tatsächlich zurücktritt? Wenn die Volksfeststimmung vorbei ist? Die Opposition fordert eine technische Interimsregierung, die Neuwahlen organisiert. Die Frage ist nur, ob Wahlen ausreichen werden, um die Probleme des Landes zu lösen. "Wir brauchen einen kompletten Neustart", sagt Xhabir Deralla. Der Menschenrechtsaktivist analysiert seit 1999 mit seiner Organisation Civil die Situation des Landes. Seit Gruevski 2006 an die Macht kam, wuchs der öffentliche Dienst von weniger als 100 000 auf mehr als 180 000 Beamte an. Paradoxerweise geschah das parallel zur Privatisierung der Wirtschaft. Einige der neuen Staatsdiener haben keinen Arbeitsauftrag, dafür aber ein Gehalt, und sie zeigen klare Loyalität an der Wahlurne. Gruevski ist der Mann, der sie stützt. "Es gibt hier keinen Rechtsstaat mehr, und dass die Opposition nun im Besitz eines riesigen Abhör-Archivs ist, ist natürlich auch ein Problem," sagt Deralla. Sicher sei nur eins: "Gruevski muss zurücktreten." Und wenn er es nicht tut? Deralla überlegt. "Wenn er es nicht tut, wird das hier die Hölle."

Das Ausland mischt sich ein

In die mazedonische Staatskrise hat sich inzwischen das Ausland eingemischt. Europäische und US-Diplomaten haben vergangene Woche ein gemeinsames Treffen von Gruevski und Zaev organisiert, auf dem immerhin beteuert wurde, dass beide Seiten auf Gewalt verzichten wollten. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte am Samstag, er beobachte die aktuelle Entwicklung auf dem Balkan "mit großer Sorge". Westliche Mächte könnten die ethnischen Konflikte in Mazedonien ausnutzen, um eine "Farben-Revolution" anzuzetteln, wie in der Ukraine 2004, die schließlich zum Zerfall des Landes führen könnte, beklagt der Russe. So wird Mazedonien zur Bühne für eine weitere Runde West gegen Ost.

Dass das Binnenland mit seinen nur zwei Millionen Einwohnern so viel Aufmerksamkeit bekommt, liegt daran, dass sich hier im Kleinen die großen Konflikte des Balkans konzentrieren. Mehr als 25 Prozent der Bevölkerung sind Albaner. Die Straßenbeschilderung ist kyrillisch, albanisch, englisch. Wenn sich vor Sonnenuntergang das Gebet der Muezzins gegen das Rauschen der allgegenwärtigen Springbrunnen durchsetzt, leuchten auf den Bergen rund um Skopje riesige Kreuze auf, christliche Bekenntnisse in Neon und Weiß. Gerät Unruhe in dieses Gefüge, werden die Nachbarländer Albanien, Kosovo und Serbien mitgerissen.

Anti-government protesters dance during a demonstration in Skopje

Die Demonstranten werfen der Regierung undemokratische Methoden vor.

(Foto: Marko Djurica/Reuters)

Zusammenschluss gegen die Regierung

Die Forderung, die albanischen Minderheiten aus den jeweiligen Ländern herauszulösen und in einem Großalbanien zusammenzuführen, ist bei den Eliten in Albanien und Kosovo zwar nicht mehr Staatsmeinung, aber dennoch schnell abrufbar. Als am Wochenende des 9. Mai in Mazedoniens zweitgrößter, albanisch geprägter Stadt Kumanovo ein bewaffneter Kampf zwischen Polizei und, so Gruevski, "albanischen Terroristen" 22 Tote forderte, dachten viele an 2001. Damals wäre Mazedonien beinahe in einen Bürgerkrieg abgerutscht.

Doch es spricht auch vieles dagegen, dass der aktuelle Konflikt eine ethnische Auseinandersetzung ist. Derzeit sieht es eher nach einem Zusammenschluss aus slawischen und albanischen Mazedoniern gegen die Regierung aus. Gruevskis Koalitionspartner ist die DUI, die die albanische Minderheit vertritt. Auch sie ist tief verstrickt in die Korruption. "Das Beste, was uns Gruevski gebracht hat, ist der Zusammenhalt von Albanern und Mazedoniern", sagt der Menschenrechtler Deralla. Wobei Gruevskis Leistung vor allem darin besteht, dass er sich vortrefflich als gemeinsamer Gegner eignet. Viele Albaner, so Deralla, würden sich inzwischen mehr mit den Sozialdemokraten denn mit der DUI identifizieren, die ja eigentlich für sie da ist.

Sie werden bleiben, bis Gruevski zurückgetreten ist, haben die Demonstranten am Sonntag angekündigt. Sobald sich die Menschenmenge lichtete, sollten Zelte aufgebaut werden. Gruevski seinerseits hat für Montag eine Großdemonstration angekündigt - aus Sicherheitsgründen am anderen Ende der Stadt.

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