SZ-Wahlzentrale:Warum die Minderheitsregierung verpönt ist - und trotzdem sinnvoll ist

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Ein neuer Bundestag wurde im September gewählt, doch eine neue Regierung steht noch nicht. (Foto: Michael Kappeler/dpa)

Nach dem Scheitern von Jamaika ist die Rede von großer Koalition oder Neuwahlen. Aber was ist mit einer Minderheitsregierung? Politikwissenschaftler Christian Stecker erklärt, warum sich Deutschland damit schwertut.

Interview von Deniz Aykanat

Die FDP hat in letzter Sekunde eine Koalition mit Union und den Grünen platzen lassen. Eine große Koalition schließt SPD-Chef Martin Schulz aus. Die FDP wiederum kokettiert seit Beginn der Jamaika-Verhandlungen mit Neuwahlen und ließ schon früh wissen, man wolle nicht um jeden Preis regieren. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hingegen erinnerte die Parteien an ihre Verantwortung und ermahnte sie nach dem Jamaika-Debakel dazu, eine Regierung zu bilden - eine klare Absage an Neuwahlen also. Als Alternative bliebe eine Minderheitsregierung. Christian Stecker ist Senior Research Fellow und Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) und erklärt, warum sich speziell Deutschland mit dieser Art der Regierung schwertut.

SZ: Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung. Was favorisieren Sie?

Christian Stecker: In der jetzigen Situation eine Minderheitsregierung. Es gibt keine neuen Informationen oder Entwicklungen, die darauf hindeuten, dass Neuwahlen zu einer veränderten Situation führen könnten. Ganz im Gegenteil, es könnte dann sogar noch schwieriger werden, Mehrheiten zu bilden, weil die AfD vielleicht stärker wird. Zum anderen halte ich Minderheitsregierungen tatsächlich für eine gangbare Alternative, um stabile Regierungen herzustellen.

Deutschland kennt bisher nur Mehrheitsregierungen. Warum kommen diese Mehrheiten nicht mehr zustande?

Die Präferenzen in der Bevölkerung haben sich fundamental verändert, und das spiegelt sich im Parteiensystem wider. Es gibt eine viel stärkere Zersplitterung entlang von Verteilungsfragen, gesellschafts- und migrationspolitischen Fragen. In dieser komplexeren Welt existiert nicht mehr nur eine Mehrheit, also Schwarz-Gelb versus Rot-Grün, sondern mehrere. Es ist rechnerisch nicht mehr möglich, überschaubare Lager-Koalitionen im Bundestag zu bilden. Die Parteien haben darauf bisher nicht angemessen reagiert. Die versuchen es immer noch mit den Kooperationsformen von Konrad Adenauer. Wenn komplexe Dreierbündnisse wie Jamaika und eine große Koalition aber nicht möglich sind, dann bleibt als Ausweg nur die Minderheitsregierung.

Minderheitsregierungen gelten in Deutschland als verpönt. Woran liegt das?

Das hat sicher historische Ursachen. Wer das Wort Minderheitsregierung hört, denkt meistens an die späte Weimarer Republik. Da sind eine Menge Minderheitsregierungen zusammengebrochen, und danach kam Hitler an die Macht. Man sollte aber viel stärker den Blick von Deutschland weglenken und sich Fälle in Skandinavien und Neuseeland ansehen. Die zeigen nämlich, dass Minderheitsregierungen sehr stabil und zum Nutzen der Demokratie sein können.

Welche Erfahrungen machen diese Länder mit Minderheitsregierungen?

Die größte Sorge in Deutschland ist ja immer, dass Minderheitsregierungen instabil sind und dass die Mehrheiten quasi über Nacht gebildet werden. Also dass Minderheitsregierungen kurzfristig zusammenbrechen können, so wie wir es in Nordrhein-Westfalen 2012 erlebt haben. Von Skandinavien und Neuseeland können wir aber lernen, dass man mit Vereinbarungen ähnlich einem Koalitionsvertrag zwischen der Minderheitsregierung und ihren Unterstützungspartnern so etwas wie eine langfristige Absicherung der Zusammenarbeit herstellen kann. Wir hätten dann keinen Koalitionsvertrag, der nur auf eine Mehrheitsregierung beschränkt ist, sondern eine Vereinbarung zwischen einer Minderheitsregierung und Unterstützungspartnern. Und die verabschieden verschiedene Gesetzgebungsprojekte miteinander, angelegt auf die Dauer einer Legislaturperiode.

Wir können uns von diesen Ländern außerdem abgucken, wie man diese Bildung von Mehrheiten absichert: Indem man zum Beispiel koalitionsausschussähnliche Koordinationsgremien einrichtet. Eine Minderheitsregierung hat zudem normative Vorteile, weil die Bildung von Mehrheiten nicht mehr nur auf die Regierung beschränkt wird, die Opposition also ausgeschlossen wird. Man kann viel stärker fallspezifisch schauen: Wo gibt es Mehrheiten von Parteien, die auf verschiedenen Feldern zusammenarbeiten können?

Was müsste in Deutschland geschehen, um Minderheitsregierungen beliebter zu machen?

Es hätte unter den politischen Akteuren schon längst ein Einsehen einsetzen müssen, dass es in einem zersplitterten Parteiensystem immer schwieriger sein wird, diese rigiden Mehrheitskoalitionen zu bilden. Wenn man das auf Länderebene eingeübt hätte und jetzt auf Bundesebene anwendet, dann würde das vermutlich viel reibungsloser funktionieren. Wir sehen aber an den Äußerungen der Spitzenpolitiker, dass die das überhaupt nicht auf dem Schirm haben. Die haben keine Vorstellung davon, wie gut das funktionieren könnte. Das setzt natürlich auch eine Flexibilität voraus, die aktuell bei den Parteien nicht vorhanden ist.

Die FDP müsste beispielsweise bereit sein, mit der Union Steuerpolitik zu machen und dafür dann darauf zu verzichten, Einfluss auch auf andere Bereiche zu haben, wie das sonst in einer Koalition der Fall wäre. Wenn man schon vor den Wahlen kommunizieren würde, dass es darum geht, die beste Politik zu machen und das auch mit einer Minderheitsregierung möglich ist, dann würde es auch nicht lange dauern, bis die Akzeptanz in der Bevölkerung wächst.

Wenn sich Parteien zu unterschiedlichen Themen mit unterschiedlichen Partnern zusammentun, verwässert das nicht ihr Profil?

Das Gegenteil ist der Fall. Eine Minderheitsregierung würde ja so funktionieren, dass Parteien fallweise eine Regierung unterstützen. Die FDP würde beispielsweise Steuerpolitik mit der Union machen. Bei Europa-Fragen würde sie sich aber vermutlich raushalten, wenn Union und SPD sich etwa am französischen Präsidenten Emmanuel Macron orientierten, weil sie das gegenüber ihren Wählern nicht vertreten wollen. Und die Grünen würden wiederum keine Flüchtlingspolitik mit der Union machen. Diese Möglichkeit, fallweise dort gemeinsam Politik zu machen, wo man das rechtfertigen kann, würde den Parteien viel besser erlauben, ihren Markenkern vor dem Wähler zu verdeutlichen.

Aber schafft das beim Wähler nicht auch Verwirrung und Orientierungslosigkeit?

Da haben Sie natürlich auch recht. Wenn wir am Ende ein Paket an Entscheidungen haben, für die nicht mehr nur die eine Regierungskoalition verantwortlich ist, sondern verschiedenen Parteien in verschiedenen Zusammensetzungen, dann kann man politische Verantwortlichkeit schwieriger zuordnen. Wir müssen aber auch realistisch sein: Aktuell gibt es diese eine Mehrheit nicht, die uns früher ermöglicht hat, politische Verantwortlichkeit klar zuzuweisen. Das wäre ein Ziel, auf das wir sinnvollerweise vielleicht verzichten sollten.

Ist eine Mehrheitsregierung denn nicht grundsätzlich besser, da sie ein Garant für Stabilität ist?

Die Situation hat natürlich eine gewisse Ironie: Offensichtlich hat gerade der Zwang, eine Mehrheitskoalition zu bilden, jetzt dazu geführt, dass wir instabile Verhältnisse haben. Weil sich schlichtweg keine Mehrheitskoalition bilden kann. In so einer Situation könnte man es mit einer Minderheitsregierung versuchen. Dann hätten wir zumindest eine Regierung, die tatsächlich im Amt ist und nicht nur geschäftsführend.

Die Sorge vor Instabilität könnte man auch mindern, indem zum Beispiel die Union Sondierungsgespräche mit allen Parteien im Bundestag führt und schaut, wo sich Mehrheiten in der Gesetzgebung bilden könnten. Die Union könnte auf die SPD zugehen und sagen: Okay, ihr wollt nicht in eine Mehrheitsregierung, aber wir können euch bestimmte Themen anbieten, bei denen ihr eure Vorstellungen mit uns sehr gut umsetzen könnt. Dasselbe mit Grünen und FDP. Und das Ganze dann mit Verträgen absichern, die auch für die Wähler transparent sind. Das schafft Erwartungssicherheit.

Wie kommen die Parteien aus diesem Debakel jetzt raus, mit möglichst wenig Schaden für die Demokratie?

Fakt ist: Es ist auf absehbare Zeit keine Mehrheitskoalition in Deutschland möglich. Ideal wäre gewesen, wenn das Format Minderheitsregierung von vornherein eine Option gewesen wäre, die man auch im Rahmen von Jamaika besprochen hätte. Aber die Politiker haben nicht so flexibel gedacht. Es jetzt noch zu versuchen, ist aber allemal besser, als völlig ergebnisoffene Neuwahlen anzustrengen. Ich würde mir wünschen, dass diese politische Klugheit bei Angela Merkel und der CDU als stärkster Kraft im Bundestag vorhanden ist und die mal anfangen, mit den anderen Parteien über eine Minderheitsregierung zu sprechen.

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