Regierungserklärung von Angela Merkel:Alle sind gleich im Bundestag? Von wegen!

Nach der Rede der Kanzlerin zeigen alle Parteien, was sie sein wollen: mal staatstragend unkonkret, mal Retterin der Solidarität, mal offen EU-feindlich. Mangelndes Profil wird künftig nicht das Problem sein - außer bei der CDU.

Von Stefan Braun, Berlin

So ist das also in der neuen Zeit. Angela Merkel ist wie immer. Und alle anderen demonstrieren, für was sie künftig stehen möchten. Da mag eine erste Regierungserklärung noch ohne neue Regierung voreilig klingen. An diesem Vormittag aber liefert sie den willkommenen Anlass für eine Debatte, in der sich schnell zeigt, welche Schwerpunkte die sechs Fraktionen im Parlament künftig setzen möchten. Zu wenig Unterschiede? Zu wenig Profil? Die Klage wird es fürs Erste nicht mehr geben.

Dabei ist das mit dem Profil bei der Kanzlerin natürlich so eine Sache. Wichtigste politische Ziele sind selten offen erkennbar, sie werden noch seltener leidenschaftlich vorgetragen. Und sie sind auch an diesem Morgen nicht wirklich greifbar. Denn in ihrer Regierungserklärung zeigt die Kanzlerin vor allem, dass sie in diesen Zeiten noch staatstragender als bisher auftreten möchte.

Merkel beginnt mit einem Panoptikum der Krisen und Herausforderungen. Sie unternimmt schon in den ersten Minuten den Versuch, allen anderen Abgeordneten den großen Rahmen fürs Politikmachen vorzuhalten. "Wir alle registrieren, was um uns herum in der Welt passiert", sagt die Kanzlerin, quasi zur Begrüßung.

Die Kriege in Syrien, in Libyen oder in der Ukraine fänden nicht irgendwo, sondern wenige Flugstunden von Berlin entfernt statt; der Schwerpunkt der Weltwirtschaft verlagere sich, besonders nach Asien; und damit einher gehe die Tatsache, dass europäische Unternehmen nicht mehr in allen Bereichen "Weltspitze" seien. Merkels zentrale Botschaft: Macht euch bewusst, was da draußen los ist. Macht euch klar, was passiert, wenn Europa nicht wieder stark wird.

Merkels Appell: "Die Welt wartet nicht auf uns"

Wirklich leidenschaftlich wird sie bei dieser Einführung zwar nicht, aber man spürt immerhin, was sie umtreibt. Es sind die Veränderungen. Die Erdplattenverschiebungen, über die sie schon des Öfteren räsoniert hat. Danach freilich wird sie sehr allgemein. Mancher würde sagen: sie wird langweilig und staatstragend. "Die Welt wartet nicht auf uns", mahnt die Kanzlerin, wie schon seit Jahren. "Deshalb brauchen wir europäische Antworten auf die Fragen unserer Zeit." Das klingt nach Volkshochschule; es klingt logisch. Es klingt nach Merkel, wenn sie über Europa redet. Nüchtern, unaufgeregt, nicht wirklich prickelnd.

Auch der Satz, der danach kommt, macht es nicht besser. Der klingt nach mehr, bringt aber nicht mehr mit sich. "Wir brauchen einen neuen Aufbruch für Europa", erklärt die Kanzlerin - und wiederholt dann das, was man, vorsichtig ausgedrückt, schon ein paar Mal gehört hat. Europa müsse sich mehr um die Menschen kümmern; Europa müsse für mehr Grenzschutz sorgen; Europa müsse mehr gegen Fluchtursachen kämpfen; Europa müsse die Flüchtlinge fairer zwischen den Mitgliedsstaaten verteilen.

Falsch ist daran nichts; konkreter als früher wird's aber auch nicht. Merkel liefert eine Liste dessen ab, ohne dabei präzise zu werden. Ein Physiker hätte hier keine Freude; er wüsste nicht, was sie im Kern machen möchte.

Das wird auf fast traurige Weise auch dann noch deutlich, als Merkel die aktuellen Angriffe in Syrien anspricht. Europa müsse sich so aufstellen, dass es derartige Massaker künftig auch verhindern könne. Das wirkt entschlossen und lässt doch vieles offen. Will sie mehr Militär? Will sie mehr Geld für Krisenprävention? Will sie eine stärkere Weltgemeinschaft? Man hätte es gerne genauer gewusst.

Und was sagt die Kanzlerin zu den EU-Finanzen, jetzt, da Großbritannien als Nettozahler bald wegfällt und 14 Milliarden Euro im EU-Haushalt fehlen werden? Sie begreife das "auch als Chance, den Finanzrahmen auf den Prüfstand zu stellen". Ein Satz, der für viele Merkel'sche Sätze steht an diesem Morgen.

Nahles will die Ungleichheit in Europa mindern

Für Andrea Nahles freilich öffnet das Räume, um ganz anders aufzutreten. Die SPD-Fraktionschefin nämlich beschränkt sich fast ausnahmslos auf die sozialen Probleme, die sie in der EU ausgemacht hat. Ihre Botschaft: Die Ungleichheit in Europa sei der Schlüssel des Problems. Deshalb würden die Sozialdemokraten fortan zuallererst für die Bekämpfung dieses Problems eintreten.

Dabei erinnert sie an die Wahl Donald Trumps vor anderthalb Jahren und zitiert aus Nachwahl-Analysen, in denen viele Wissenschaftler auf die Abgehängten verwiesen hätten. Nahles' Ziel: Sie will deutlich machen, dass das diesseits des Atlantiks nicht anders aussieht. Im Gegenteil sei "die Situation in Europa noch schlimmer".

Und dann zitiert sie die Unterschiede beim Pro-Kopf-Einkommen, beklagt vor allem im Süden Europas eine gefährlich hohe Arbeitslosigkeit, wirbt für einen Mindestlohn und für gemeinsame Regeln gegen Lohndumping. Mit einem Wort: Wo die Kanzlerin nur Grundrichtungen andeutet, kümmert sich Nahles schon fast um konkrete Gesetzgebungsverfahren. Dabei hat sie offenkundig nur ein Ziel: Sie will nicht mehr über alles reden, sondern die soziale Frage in den Mittelpunkt stellen. Und sie will - natürlich schwingt das mit - auf diese Weise auch für die neue große Koalition werben. Nicht zuletzt bei der kritischen eigenen Basis.

Dass Alice Weidel von der AfD ganz anders daherkommt, kann nicht überraschen. Sie hat sich zwei Ziele gesetzt, und die sind ganz eindeutig: Brüssel muss als Verschwender und die Regierung in Berlin als Verschenker deutscher Steuergelder gegeißelt werden. Auf dass das Bild sich einprägen möge, alleine die AfD arbeite im Sinne der kleinen Leute. Dass Weidel den Sinn der Zahlungen gänzlich verschweigt? Ist nicht überraschend. Dass Deutschland anders dastünde ohne die EU - für Weidel kein Thema. Das Gute, das Erfolgreiche, das Sinnvolle und Wichtige an der EU - es würde einfach nicht ins Bild passen, das Weidel zum eigenen Zwecke zeichnen möchte.

Und also attackiert sie lieber alle, insbesondere beim Brexit. Dass die anderen Europäer den kritisierten, zeige vor allem, wie groß die Angst sei, andere könnten es den Briten gleich tun. Deshalb die Härte und Strenge im Streit um die künftigen Beziehungen. Deshalb das Bemühen, "ein Exempel zu statuieren". So etwas sei nicht klug, sondern "ein törichter Fehler". Richtiger wäre, das zu tun, was die AfD wolle, nämlich ein "Europa der Vaterländer."

FDP-Chef Lindner setzt sich ab von der AfD

Dramaturgisch interessant ist, dass darauf Christian Lindner antwortet. Also einer, der in den ersten Wochen des neuen Parlaments manches Problem hatte. Insbesondere das Problem, dass die AfD auf Initiativen der Liberalen aufsprang, was Lindner gar nicht recht war, weil es ein ganz klein wenig wie Nähe aussah.

Und so kommt es dem FDP-Vorsitzenden sehr gelegen, dass er an diesem Vormittag eine scharfe Linie ziehen konnte. Eine, die jede Nähe ausschließen sollte. Ja, Europa stehe vor großen Herausforderungen, aber die seien alle zu meistern. Eine Gefahr, eine echte Gefahr gehe nur von einer Seite aus: "den simplen und falschen Antworten der Nationalisten".

Man sieht Lindner an, wie lieb ihm dieser Satz ist: Es ist die erste Replik auf die Kanzlerin. Und es ist eine wunderbare Möglichkeit, auf größtmögliche Distanz zu den Rechtspopulisten zu gehen. Was sich anschließt, ist eine kurze und präzise Aufzählung der Lücken, die die Kanzlerin in ihrer Rede nicht schließt. Sie sage wenig zum EU-Haushalt, wenig zur Verkleinerung der Kommission, wenig zu den konkreten Reformplänen. "Sie haben eine Regierungserklärung abgegeben", sagt Lindner zum Abschluss, "aber aufschlussreicher war das, was sie nicht gesagt haben."

Was eine gar nicht so schlechte Überleitung zu Dietmar Bartsch ist, dem Fraktionschef der Linken. Der nämlich macht es genau umgekehrt: Er klagt an mit dramatischen Worten ( das Wort "dramatisch" benutzt er gefühlt ein Dutzend Mal). Aber was er präzise machen würde, behält Bartsch lieber für sich.

Es ist einfach leichter, vom "miserablen Zustand" der EU zu sprechen, es ist einfacher, die "Austeritätspolitik" Berlins zu attackieren (und dabei mal eben die Suizidrate in Griechenland zu zitieren). Müsste Bartsch dagegen erklären, wie er den Griechen im Konkreten helfen würde, dann müsste er schon sehr konkret werden bei der Frage, was Teilen im großen Stil bedeutet. Auch für die eigenen Wähler.

Interessant, dass sich die Kanzlerin und der Linke an der Stelle fast ein bisschen ähneln.

Und dann sind da noch die Grünen. Die als letztes zu Wort kommen. Draußen sind die Umfragen gut, im Bundestag aber bekommen sie zu spüren, dass sie die kleinste Fraktion stellen. Gleichwohl wirkt deren Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, als habe sie die meiste Energie beim Thema Europa. Sie wirbt für mehr Einsatz, um die Beziehungsprobleme zu lösen. Sie ruft nach mehr Engagement, um den Zusammenhalt zu stärken. Europa braucht "mehr Leidenschaft und mehr Zukunftsdrang" ruft sie ins Plenum. Und führt dann aus, dass es aus ihrer Sicht ganz egal sein müsse, ob die Arbeitslosigkeit als gefährlichstes Problem in der EU einen Jugendlichen im eigenen Nachbardorf oder in Griechenland treffe.

Es ist schon bemerkenswert, dass die größte Fraktion dabei ziemlich gleichgültig und die kleinste umso leidenschaftlich auftritt.

Alle Parteien sind gleich? Das ist fürs erste Geschichte.

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