Regierungserklärung:Merkel erklärt, ihre Truppe zofft

Angela Merkel

Bundeskanzlerin Merkel im Bundestag: Stoisch erklärt sie ihre Flüchtlingspolitik.

(Foto: AP)

Und Sahra Wagenknecht wirft der Türkei vor, sich "in ein Flüchtlingsgefängnis" zu verwandeln. Über Zwist und Einigkeit nach der Regierungserklärung der Kanzlerin.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Es mag manche verwundern, andere ärgern - aber Angela Merkel ist tatsächlich noch immer Kanzlerin. An diesem Mittwoch hat sie im Bundestag eine Regierungserklärung zum bevorstehenden Europäischen Rat gehalten. Viele Abgeordnete aus Bayern tun sich dabei schwer, die Hände zum Applaus zu heben, als Merkel ihre Flüchtlingspolitik erklärt. Die CSU will Obergrenzen, Merkel nicht. CSU-Chef Horst Seehofer sieht eine "Herrschaft des Unrechts", weil Flüchtlinge vor allem über die bayerische Grenze einfach so nach Deutschland kommen können. Merkel sieht darin einen Akt der Humanität.

Immerhin gibt es eine gewisse Einigkeit im Umgang mit Großbritannien. Die Briten werden in diesem Jahr in einem Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union entscheiden. Im Europäischen Rat der Regierungschefs in Brüssel an diesem Donnerstag und Freitag wird zunächst darüber beraten, wie die EU dem britischen Premier David Cameron entgegenkommen kann. Merkel hält die Vorschläge des polnischen Ratspräsidenten Donald Tusk für eine "gute Verhandlungsgrundlage".

Es "handelt sich bei den Anliegen keineswegs nur um britische Einzelinteressen", sagt sie. Manches sei "berechtigt und nachvollziehbar". Etwa die Frage, wie die einzelnen Mitgliedsstaaten ihre Sozialsysteme gegen Missbrauch schützen können. "Das alles ist kein Dissenspunkt", sagt Merkel. Und hat da die CSU auf ihrer Seite - das ist selten in diesen Tagen.

Merkel will die Lasten zwischen der EU und der Türkei gerecht verteilen

Merkel ist nur wichtig, dass "grundlegende Errungenschaften" der EU nicht in Frage gestellt werden dürfen. Nämlich die Freizügigkeit und die Nichtdiskriminierung von EU-Bürgern. "Diese beiden Prinzipien stehen nicht zur Disposition", sagt sie. Zehn Minuten ihrer Erklärung wendet sie für Großbritannien auf. Den Rest der knappen halben Stunde für die Flüchtlingspolitik.

Keine Überraschung: Das Wort Obergrenze oder irgendetwas in die Richtung kommt ihr nicht über die Lippen. Stattdessen erklärt sie stoisch die Grundzüge ihrer Flüchtlingspolitik, als würde ihr die CSU nicht Stress machen, wo es geht. Vorher aber macht sie klar: Kontingente werden in den kommenden zwei Tagen sicher nicht beschlossen. Erst einmal nämlich müsse es um die Frage gehen, "wie weit wir in der umfassenden Bekämpfung der Fluchtursachen und dem Schutz der Außengrenzen vorangekommen sind".

Ein Konzept, das nicht allen in der EU gefällt. Manche wollen lieber die Grenzen ganz dichtmachen. Vor allem die zwischen Mazedonien und Griechenland. Motto: Wer nicht kommen kann, wird auch nicht zum Problem. Für Merkel käme das einem "Aufgeben" gleich. Mit unabsehbaren Folgen für die Europäische Union.

Zum Schutz der griechischen EU-Außengrenze gehört für sie auch, die Lasten zwischen der EU und der Türkei gerecht zu verteilen. Um dann den Flüchtlingszuzug ordnen und steuern zu können. Was wiederum nur ginge, wenn die EU mit der Türkei Kontingente vereinbart.

Aber eher kehrt in Syrien wieder Frieden ein, scheint es. Zu groß ist die Uneinigkeit unter den EU-Staaten. In Merkels zusammengezimmerter "Koalition der Willigen" sind weder Frankreich noch Großbritannien dabei. Und Österreich hat gerade beschlossen, nur noch 80 Asylanträge am Tag anzunehmen.

Merkel: "Die, die Schutz brauchen, sollen Schutz bekommen."

Merkel aber bleibt ihrem Grundsatz treu: "Die, die Schutz brauchen, sollen Schutz bekommen." Wieder ruhen die Hände von CSU-Abgeordneten. Merkel spricht die Kritik an ihrem Kurs nicht direkt an. Nur so viel: Trotz all der kritischen Umfragen, die es gebe, "über 90 Prozent sagen nach wie vor, wer vor Terror flieht, soll weiter die Möglichkeit zur Aufnahme haben." Merkel schließt: "Ich finde das wunderbar."

SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann findet das ähnlich wunderbar. Vielleicht auch, weil das die CSU so ärgert. Er stimmt Merkel in allen Punkten mehr oder weniger zu. Das Schönste aber hebt er sich für den Schluss auf: ein kurzes juristisches Seminar zur rechtlichen Bewertung der Zuwanderung.

Ja, es sei richtig, nach dem Grundgesetz hat nur der Anspruch auf Asyl, der nicht vorher schon woanders seinen Fuß auf EU-Boden gesetzt hat. Aber es gebe eben auch ein "Selbsteintrittsrecht", doziert Oppermann. Dieses erlaubt das eigenmächtige Aussetzen von EU-Regeln zum eigenen Nachteil. (Kein völlig neuer Akt, wie diese Presseerklärung zeigt.)

Der Kanzlerin stehe dieses Recht im Rahmen ihrer Richtlinienkompetenz zu, sagt Oppermann. Weshalb Deutschland vorübergehend davon absehen könne, Menschen an der Grenze abzuweisen oder zurückzuschicken. "Das ist eine politische Ermessensentscheidung", sagt Oppermann. Und juristisch einwandfrei: "Deutschland darf nach geltendem Recht Flüchtlinge aufnehmen und versorgen."

Adressat dieses kleinen Exkurses ist CSU-Chef Horst Seehofer mit seinem Gerede von der "Herrschaft des Unrechts". Das ist "starker Tobak, meine Damen und Herren", sagt Oppermann, der in einem früheren Leben als Richter gearbeitet hat. Historisch betrachtet sei es "grober Unfug, die Bundesrepublik als Unrechtsstaat einzuordnen. Vor allem aber sei es für die Bürger nicht nachvollziehbar, "wenn demokratisch gewählte Ministerpräsidenten den gleichen Unsinn erzählen wie Politiker von der AfD". Bäm, das hat gesessen.

Union warnt Oppermann vor "Fehlinterpretationen"

Union-Fraktionschef Volker Kauder empfiehlt seinem SPD-Kollegen hernach, nicht "Fehlinterpretationen zu verstärken". Er solle sich lieber an alte Koalitionsgepflogenheiten erinnern, nach denen sich die Koalitionäre in solchen Debatten nicht gegenseitig in die Pfanne hauen: "Mir würde auch manches einfallen zu manchem SPD-Politiker! Aber wissen sie, über allem steht, dass wir eine Verantwortung für dieses Land haben. Deswegen verkneife ich mir die ein oder andere Aussage auch!"

CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt sieht das genauso. Die Lage sei viel zu ernst um sich "an irgendwelchen Begriffen aufzuhängen". Auch sie bitte darum, keine "Fehlinterpretationen" zu verbreiten. Was weder Kauder noch Hasselfeldt erklären: Wie kann eigentlich "Herrschaft des Unrechts" fehlinterpretiert werden?

Und was hat die Opposition dazu zu sagen? Die sogenannte Oppositionsführerin Sahra Wagenknecht herzlich wenig. Sie nimmt sich die Europäische Union lieber grundsätzlich vor. Ein "Scherbenhaufen" sei das, "neoliberal" und "konzerngesteuert", eine EU der "wirtschaftlich Mächtigen und Reichen". Dann relativiert sie den russischen Bombenhagel auf Aleppo, in dem sie sich mit Bezug auf Merkel darüber echauffiert, wie traurig es sei, "dass sich ihr Entsetzen nur dann Bahn bricht, wenn russische Maschinen ihre Bomben abladen".

Mit der Türkei über Flüchtlinge verhandeln? Geht für Wagenknecht gar nicht. Der türkische Präsident Erdoğan sei ein "Terrorpate", eine "personifizierte Fluchtursache", der die "Verwandlung der Türkei in ein Flüchtlingsgefängnis" betreibe. Und von dem sich Merkel offenbar in einen Krieg gegen Russland reinziehen lassen wolle.

Grüne üben Kritik an Nebenschauplätzen

Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat es da schwerer. Die Grünen stützen Merkels Kurs grundsätzlich. Da bleiben für Kritik nur Nebenschauplätze. Etwa, dass das SPD-geführte Familienministerium offenbar die Asylpaket-II-Gesetze nicht liest, bevor sie ins Kabinett gehen. Während im Mittelmeer wieder Hunderte Menschen ertrunken sind.

Die Grünen regieren halt irgendwie mit. Den neuen sicheren Herkunftsländern Marokko, Algerien und Tunesien müssen grün-mitregierte Länder im Bundesrat zustimmen, bevor das zum Gesetz werden kann. Da kann die Kritik von Göring-Eckardt nur in Plattitüden verharren: "Frau Merkel, Sie haben ihren Laden nicht im Griff und Gabriel macht noch mit dabei." So in der Art eben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: