Referendum in Ungarn:Budapester Schauermärchen

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Ein ungarischer Polizist an der Grenze zu Serbien, nahe dem Flüchtlingslager Röszke.

(Foto: AFP)
  • Vor dem Referendum über Ungarns künftige Flüchtlingspolitik macht die Regierung Orbán Stimmung gegen Migranten.
  • "Migration ist Gift" ist nur eine der Parolen und Unwahrheiten, die den Bürgern eingeredet wird.
  • Dutzende Nichtregierungsorganisationen und eine Satire-Truppe stemmen sich gegen die Kampagne - doch vielerorts bleiben sie einsame Rufer in der Wüste.

Von Cathrin Kahlweit

Zwei sehr einsame Gestalten stehen vor dem Gemeindehaus von Abony. Es sind pensionierte Offiziere. Die beiden protestieren gegen das Referendum, das die Regierung für den 2. Oktober angesetzt hat. An ihnen vorbei ziehen, fein gemacht und erwartungsfroh, Einwohner der ungarischen Kleinstadt. Keiner bleibt stehen, keiner diskutiert mit ihnen, keiner nimmt ein Flugblatt. "Ihr seid Idioten", ruft ein Rentner. Die Attraktion an diesem Abend im überfüllten Gemeindesaal ist Fidesz-Fraktionschef Lajos Kósa. Er ist, wie Dutzende andere Prominente der Regierungspartei, Teil der großen Roadshow mit Hunderten Veranstaltungen im ganzen Land, die für die Teilnahme an der Volksabstimmung mobilisiert.

Denn die Ungarn sollen Premier Viktor Orbán am 2. Oktober mit einem mächtigen Mandat ausstatten und folgende Frage mit Nein beantworten: "Möchten Sie, dass die Europäische Union den Ungarn auch ohne Zustimmung des nationalen Parlaments die Ansiedlung von nicht-ungarischen Bürgern aufzwingen kann?" Die verpflichtende Verteilung von Flüchtlingen in Europa soll bekämpft werden, auch wenn sie in Brüssel ohnehin als nicht mehr umsetzbar gilt, wegen des Widerstandes Ungarns und der Visegrád-Staaten.

Orbán hat seine Haltung längst auf eine einfache Formel gebracht: "Migration ist Gift."

Eine Mischung aus Übertreibungen und Unwahrheiten

Kósa redet fast anderthalb Stunden. Seine Ansprache ist eine Mischung aus Übertreibungen und Unwahrheiten. In Deutschland wäre eine solche Propaganda-Show wohl nur von Rechtsradikalen zu hören. Die Migranten, von denen lediglich fünf Prozent echte Flüchtlinge seien, wollten Europa besetzen, so Kósa. Sie akzeptierten europäische Werte nicht, seien feindselig, ein von "geheimen Nachrichten gelenkter Fluss". 70 Prozent von ihnen könnten nicht einmal in ihrer Muttersprache lesen und schreiben, sie könnten nicht arbeiten - nicht "im europäischen Sinne".

Massenhafte Gewalt gegen Frauen sei mit ihnen in Europa eingezogen, früher sei das undenkbar gewesen. Und von wegen arm. Die meisten hätten Geld, wenn man ihnen Visa gäbe, kämen sie mit einem Business-Ticket per Flieger aus Pakistan. Brüssel wolle sie nicht stoppen, sondern langfristig bis zu 40 Millionen in Europa ansiedeln. Deutschland sei schuld daran und wälze die Verantwortung auf andere ab. Apropos Deutschland: 1,5 Millionen Flüchtlinge seien nach Deutschland gegangen, die allermeisten junge Männer. Weil diese sich deutsche Frauen nähmen, müssten deutsche Männer nun in ihrer Not Chinesinnen und Taiwanerinnen heiraten, was das Migrationsproblem verdoppele.

Kósa appelliert an parteiübergreifende Ressentiments

Nach Kósa appelliert der lokale Abgeordnete an die Zuhörer, unbedingt abstimmen zu gehen, das Referendum sei "parteiübergreifend". Wenn ein Migrant vor den Augen eines ungarischen Vaters dessen Tochter vergewaltige, dann sei ihm egal, welcher Partei der Vater angehöre. Fraglich sei, wie lange man in Ungarn noch Ungarisch reden könne, wie lange es hier noch katholische Gottesdienste gäbe, wenn die linke Elite in Brüssel ihre Pläne wahr mache. Das Publikum lauscht gebannt.

Mehr als 70 Prozent der Ungarn lehnen Migranten ab

Die Propaganda der Fidesz-Regierung in Reden, Plakaten und Medienauftritten hat dazu geführt, dass laut Meinungsforschungsinstitut Publicus mehr als 70 Prozent der Ungarn Migranten im Land grundsätzlich ablehnen, nur 15 Prozent seien Flüchtlingen gegenüber "tolerant". Bei dem Referendum Anfang Oktober wird mit einer Zustimmung von mindestens 80 Prozent zur Regierungslinie gerechnet.

Die Mobilisierung, die mit Flugblättern an jeden Haushalt und politischem Druck auf die Kommunen noch verstärkt wird, zielt vor allem auf die Teilnahme an der Befragung ab. Ein Quorum von 50 Prozent soll erreicht werden, alles darunter wäre ein massiver Imageschaden. Ungarische Medien berichten, Fidesz drohe Bürgermeistern, deren Orte durch eine niedrige Beteiligung auffielen, mit Folgen für den Stadtsäckel. In links regierte Kommunen würden die Flüchtlinge von Brüssel zuerst geschickt, heißt es. Selbst die Roma werden direkt angesprochen: Wenn die teuren Flüchtlinge kämen, müsse man wohl oder übel die Sozialhilfe kürzen.

Dabei hat das Ergebnis der Befragung rein formalen Charakter und soll die Bevölkerung vor allem weiter für eine radikale Abschottungspolitik mobilisieren; die spiegelt sich auch in den neuen Plänen für einen zweiten Zaun an der ungarisch-serbischen Grenze wieder. Nach den jüngsten Gesetzesverschärfungen werden Flüchtlinge, die hinter dem Zaun aufgegriffen werden, ohnehin umgehend nach Serbien zurücktransportiert; in den Transitzonen entlang der Landesgrenzen werden im Durchschnitt nur 30 Menschen täglich vorgelassen. Die Anerkennungsquote für Asylanträge ist in Ungarn im europäischen Vergleich extrem niedrig, weil, so Regierungssprecher Zoltan Kovács, die Regierung diese Menschen nicht als "Flüchtlinge" betrachte und daher bewusst das Wort Migranten benutze. Das Helsinki-Komitee und Amnesty International berichten regelmäßig über Misshandlungen an der Grenze.

Zwei Dutzend Nichtregierungsorganisationen rufen dazu auf, das Referendum zu boykottieren oder eine ungültige Stimme abzugeben, um so gegen Orbáns Flüchtlingspolitik zu protestieren. Auch die linke Opposition wirbt für den Boykott, obwohl die Führung der Sozialdemokraten einräumt, dass sie Probleme mit der europäischen Flüchtlingspolitik habe und sich vorstellen könne, Fidesz im Kampf gegen die Quote zu unterstützen. Die Basis ist zu Recht verwirrt. Nur wenige Regierungskritiker finden, die Ungarn sollten mit Ja stimmen. Also, mit Blick auf den kompliziert formulierten Wortlaut des Referendums, dafür, dass die EU über eine Verteilung von Flüchtlingen in der Union nach einem festgelegten Schlüssel entscheiden soll und auch Ungarn Migranten zuweisen kann.

Nur eine Satire-Truppe bietet der Hasskampagne die Stirn

Nur die Satire-Truppe "Partei des zweischwänzigen Hundes" hat per Crowdfunding in kurzer Zeit fast 100 000 Euro eingenommen und eine Gegenkampagne gestartet mit Flugblättern, Plakaten und Postern. Sie nimmt die Diktion einer Plakataktion der Regierung auf und fragt: "Hätten Sie's gewusst? In Syrien tobt ein Krieg." Und: "Hätten Sie's gewusst? Die Menschen sind nicht dumm." Parteichef Gergely Kovács sagt, es sei unfassbar: In den vergangenen anderthalb Jahren habe die Orbán-Regierung Millionen an Steuergeld ausgegeben, um den Hass in der Gesellschaft zu schüren. Alle Wut in Ungarn richte sich jetzt gegen Migranten, dabei hätten die meisten seiner Landsleute in ihrem Leben "mehr Ufos gesehen als Flüchtlinge".

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