Reformen unter Xi Jingping:Aktivisten warnen Westen vor Naivität gegenüber China

-

Ein Vater spaziert mit seinem Sohn durch die Straßen von Peking.

(Foto: AFP)

Die Ein-Kind-Politik lockern, das umstrittene Gulag-System abschaffen: China kündigt wohlklingende Reformen an, doch Politiker und Aktivisten warnen vor verfrühtem Applaus. Schließlich will Staatschef Xi Jingping seine Bürger noch stärker überwachen.

Die Reformankündigungen aus Peking stoßen bei Menschenrechtlern und Kritikern der chinesischen Ein-Kind-Politik auf Skepsis. Die chinesische Aktivistin Chai Ling, eine der Anführerinnen der 1989 blutig niedergeschlagenen Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking, nannte die angekündigten Schritte zwar einen "kleinen Schritt nach vorn". Die Ein-Kind-Politik müsse jedoch "ganz abgeschafft" werden, forderte sie.

"China mag die Zahl der Kinder lockern, die Paare bekommen können, aber das zugrundeliegende System, das reproduktive Rechte und Wahlmöglichkeiten verletzt, bleibt unverändert", sagte Maya Wang von Human Rights Watch. Die Ein-Kind-Politik hat zwar Chinas Ressourcen geschützt und eine Explosion der Bevölkerung verhindert, doch die Folgen sind heute problematisch. Die Überalterung der Gesellschaft schreitet rasant voran, es gibt einen eklatanten Männerüberschuss.

Der US-Republikaner und Abtreibungsgegner Chris Smith aus dem US-Bundesstaat New Jersey warnte den "leichtgläubigen Westen", Pekings Ankündigungen voreilig Applaus zu spenden. Der staatliche Zwang bei der Geburtenkontrolle bleibe "unverändert". "Sie müssen den Zwang aufheben und sie müssen erzwungene Abtreibungen abschaffen", forderte Smith, der seit Jahren die chinesische Ein-Kind-Politik kritisiert.

Problematische Folgen der Ein-Kind-Politik

Chinas kommunistische Führung hatte zuvor bedeutende Reformen für Gesellschaft und Wirtschaft angekündigt, darunter eine Lockerung der Ein-Kind-Politik und die Abschaffung des Systems von "Umerziehung durch Arbeit". Seit Ende der 70er Jahre dürfen Paare im bevölkerungsreichsten Land der Erde nur in wenigen Ausnahmen mehr als ein Kind bekommen. Der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua zufolge sollen Paare nun ein zweites Kind bekommen dürfen, wenn ein Elternteil ein Einzelkind ist. Bislang dürfen nur Paare auf dem Land ein zweites Kind bekommen, wenn ihr erstes Kind ein Mädchen ist. Die Ein-Kind-Politik wird häufig mit brutalen Mitteln durchgesetzt, es gibt Berichte über erzwungene Spätabtreibungen und Zwangssterilisationen.

Die Entscheidung, das System der "Umerziehung durch Arbeit" abzuschaffen, gehöre zu mehreren Schritten, mit denen die "Menschenrechts- und juristischen Methoden verbessert werden" sollten, berichtete Xinhua. Kleinkriminelle, Unruhestifter oder unliebsame Kritiker des Regimes können bislang willkürlich und ohne Gerichtsverfahren oder Anwalt bis zu vier Jahre weggesperrt werden.

Der liberale Eindruck täuscht

Das Gulag-System wurde 1957 eingeführt, nach einem UN-Bericht waren bis 2009 etwa 190.000 Chinesen betroffen. Das Motto "Umerziehung durch Arbeit" wird häufig wörtlich genommen: Zehn Arbeitsstunden am Tag über sieben Tage die Woche sind offenbar keine Seltenheit. Auch schwere Misshandlungen kommen vor.

Die Pläne der Regierung sind sowohl eine Reaktion auf wachsenden Unmut in der Bevölkerung über die Ungerechtigkeiten der Lagerhaft als auch eine Antwort auf die internationale Kritik. Nichts macht China leichter angreifbar. Erst im Oktober hatte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf die Praxis wieder angeprangert.

Liberaler Eindruck täuscht

Der Sinologe und Politikwissenschaftler Sebastian Heilmann sprach angesichts der Reformpläne von einem "historischen Dokument". Seit dem Beginn der Öffnungs- und Reformpolitik im Jahr 1978 habe es keinen Beschluss gegeben, der so umfassend, konkret und ambitioniert gewesen sei, sagte der Direktor des Mercator Institute for China Studies (MERICS) der Stuttgarter Zeitung.

Durch die Abschaffung dieses Unrechtssystems möchte Präsident Xi Jinping liberaler erscheinen. Einen anderen Eindruck vermitteln aber seine Äußerungen auf der Sitzung des Zentralkomitees zur Kontrolle des Internets und der Mikroblogger. Er beklagte die neuen technischen Möglichkeiten, über Kurznachrichten und soziale Medien die Gesellschaft mobilisieren zu können. Die Verbreitung von Informationen müsse in Schach gehalten und die Meinungshoheit gewahrt werden, um die Stabilität und staatliche Sicherheit zu verteidigen, sagte er.

Über die Reformen hatte von Samstag bis Dienstag das 376-köpfige Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in Peking beraten. Es war das dritte Plenum seit dem KP-Kongress vor einem Jahr, bei dem die neue Führungsriege um Staatschef Xi Jinping bestimmt worden war.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: