Reform-Vorstoß:"Ist das Staat oder kann das weg?"
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Führungskräfte der Unionsfraktion wollen Politik und Verwaltung modernisieren. Sie fordern die Abkehr von nutzlosen Gesetzen und Papierbürokratie. Sogar die Existenz von Ministerien wird hinterfragt.
Von Boris Herrmann, Berlin
Politik und Staat müssen sich radikal ändern. Wir haben handwerklich schlecht gemachte Gesetze. Der Fisch stinkt von oben.
Wer so redet, den würde man spontan jener Empörungsgemeinde zurechnen, die auf Demos, im Netz oder am Stammtisch rituell über "die" Politiker und den "Behördendschungel" schimpft. Wer so redet, ist aber eher selten eine Führungskraft in der Bundestagsfraktion der Union. Deshalb dürften die eingangs zitierten Thesen der CDU-Bundestagsabgeordneten Nadine Schön und Thomas Heilmann durchaus ein paar Wellen schlagen.
Schön und Heilmann, die beide dem Fraktionsvorstand angehören, sind der Meinung, dass sich "unser Staat in den nächsten 10 Jahren mehr ändern muss als in den letzten 70 Jahren zusammen." In ihrem Buch "Neustaat", das sie am Dienstag in Berlin präsentierten, machen sie 103 konkrete Vorschläge für eine Radikalkur von Politik und Verwaltung im Stile der Stein-Hardenbergschen Reformen im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts. "Wir brauchen kein Rumdoktern, sondern einen großen Aufschlag", sagt Schön und sie findet: "Wir müssen bei uns selbst anfangen."
Diese vielleicht noch nicht an jeder Stelle ausgegorene, aber allemal überraschende Systemkritik aus dem System heraus bezieht sich auf die Art und Weise wie Gesetze entstehen, wie Koalitionsverträge formuliert sind, wie im Öffentlichen Dienst Loyalität belohnt und Querdenkertum bestraft wird, wie Behörden sich minutiös abstimmen und dabei fröhlich aneinander vorbei arbeiten. Wenn es so weitergeht, glauben Schön und Heilmann, "droht dem Staat droht die Handlungsunfähigkeit".
Auch der Fraktionschef und der Gesundheitsminister unterstützen den Vorstoß
Sielegen deshalb eine Art Masterplan für die Post-Merkel-Ära vor und fordern, dass die Staatsmodernisierung ein zentrales Wahlversprechen der Union für die kommende Bundestagswahl wird. Ganz alleine stehen sie damit offenbar nicht da. Weitere 28 Unionsabgeordnete, darunter der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, haben an dem Buch mitgewirkt. Auch Fraktionschef Ralph Brinkhaus und Gesundheitsminister Jens Spahn unterstützen den Vorstoß grundsätzlich.
Brinkhaus ist schön länger darum bemüht, den Einfluss des Parlaments zu stärken. Es heißt, er animiere seine Fraktion immer wieder zu neuen, gerne auch unbequemen Idee, die über das Tagesgeschäft hinausreichten. Als die Junge Gruppe der Union im Februar ein Buch vorstellte, in dem der CDU-Abgeordnete Philipp Amthor für eine Wiederbelebung der Leitkultur-Debatte warb, klang das aber noch eher rückwärtsgewandt. Die Gruppe um Schön und Heilmann verschwendet dagegen kaum eine Zeile mit der Beschreibung von Deutschlands Stärken. Sie erzählen dagegen von dem berühmten Storch aus Ochsenwerder, dem das Bezirksamt die Nutzung seines Storchennests untersagte, weil kein Bauantrag vorlag.
Der neue Staat, so wie ihn Teile der Union jetzt skizzieren, soll ein lernender sowie digitaler Staat sein. Dazu gehört eine automatisierte Verwaltung. So wie ein Flug online gebucht werden könne, müsse auch ein Antrag auf Wohn-, oder Kindergeld sofort automatisch abgewickelt werden. Ein Drittel der gut 4,7 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst geht in den kommenden Jahren in Rente. Der Internet-Investor Heilmann begreift das als Chance. Der interne Arbeitstitel für das Buch lautete: "Ist das Staat oder kann das weg?"
Wegfallen sollen künftig jedenfalls unnütze Gesetze. In jedem Gesetzestext müssen nach Vorstellung der Unionspolitiker messbare Ziele stehen. Werden diese verfehlt, verfällt das Gesetz automatisch. Heilmann spricht von einer "Revolution".
Auch die Ministerien sollen von diesem Reformeifer nicht verschont bleiben. Kollaboratives Arbeiten sei in der Wirtschaft längst Standard, "nur der Staat arbeitet in seinen Silos", sagt Schön. Deshalb endeten so viele Prozesse im "realen Irrsinn", vom Berliner Flughafen bis zur Bauantragsprüfung für ein Storchennest.
Bei der Behebung jener Missstände, die sie in jahrzehntelanger Regierungsverantwortung auch selbst mit befördert hat, scheut die Union auch vor radikalen Gedanken nicht zurück. Schön sagt: "Ob es am Ende gar keine Ministerien mehr geben wird? Ich könnte es mir vorstellen." In Schöns Gedankenspielen könnten in 15 Jahren alle Angestellte der Bundesverwaltung einen Pool an Arbeitskräften bilden, die dann je nach Bedarf flexibel eingesetzt werden.
Da die Ministerien aber noch existieren, gehören sie grundlegend umstrukturiert, fordern die Unionsabgeordnete. So wollen sie etwa interne Ausschreibungen verbieten, wohl wissend: "Das wird einen Aufstand geben." Denn es stellt die klassische Karriereleiter im öffentlichen Dienst und im Beamtenwesen (im Buch ist von einem "unflexiblen, allumfassenden Kastensystem" die Rede) in Frage.
All diese Vorschläge sind das Ergebnis eines anderthalbjährigen Arbeitsprozesses, als es losging, war an Corona noch nicht zu denken. Und es ist purer Zufall, dass die lang geplante Buchpräsentation nun ausgerechnet auf jenen Tag fiel, an dem der Koalitionsausschuss über ein großes Konjunkturprogramm zur Bekämpfung der Krise verhandelte. Aber bevor die lange Nachtsitzung begann, sagte Heilmann noch, es sei doch eine gute Gelegenheit, um gleich mit dem Neustart des Staates zu beginnen.