Referendum in Irland:Bangen in Brüssel

An diesem Freitag stimmen die Iren zum zweiten Mal über den EU-Reformvertrag von Lissabon ab. Bei einem Nein ginge mehr zu Bruch als nur ein Vertragswerk: Die europäische Einigung stünde auf dem Spiel.

Martin Winter, Brüssel

Es gibt Abergläubige in Brüssel, die vor Siegesgewissheit warnen. Bloß kein Unglück heraufbeschwören. Auch Diplomaten aus Dublin mahnen zur Vorsicht. Die Zahl der Unentschiedenen sei noch hoch. An diesem Freitag stimmen die Iren zum zweiten Mal über den europäischen Reformvertrag von Lissabon ab. Bei einem Nein ginge mehr zu Bruch als nur ein Vertragswerk. Dann stünde die europäische Einigung auf dem Spiel. Die guten Umfragen der jüngsten Zeit wurden in Brüssel deshalb erleichtert aufgenommen. Danach will jeder zweite Ire mit Ja stimmen, während das Nein-Lager nur mit rund einem Drittel der Stimmen rechnen kann.

Dass die Iren ihr Nein vom Juni 2008 wiederholen könnten, mag man sich in Brüssel gar nicht vorstellen. Zuviel ist geschehen seither. Den Iren wurden verbindliche Auslegungen des Vertragstextes dort gegeben, wo sie Sorgen um ihre Eigenständigkeit hatten. Mit dem Beschluss, dass auch in Zukunft jedes Mitgliedsland einen Sitz in der EU-Kommission haben wird, räumte man irische Sorgen aus, nicht immer mit am Tisch der Mächtigen sitzen zu dürfen. Und dann gab es im vergangenen Herbst die Finanzkrise. Hätte die EU Irland nicht schnell und unbürokratisch unter die Arme gegriffen, wäre die Insel in größte Schwierigkeiten geraten.

Die Iren, heißt es in Brüssel, "werden schon aus eigenem Interesse mit Ja stimmen". Der politische und wirtschaftliche Preis, den sie für eine abermalige Ablehnung zahlen müssten, sei zu hoch. Wenn Irland also mit Ja stimmt - die ersten zuverlässigen Ergebnisse werden für Samstagmittag erwartet -, dann ist der inzwischen acht Jahre währende Reformprozess der EU politisch abgeschlossen.

Dann haben alle 27 Mitgliedsländer dem Lissabon-Vertrag entweder per Parlament oder per Volksentscheid zugestimmt. Aber in Kraft tritt er erst, wenn alle Länder ihre Ratifikationsurkunde hinterlegt haben. Und dagegen hat der britische Konservative und Oppositionsführer David Cameron eine Intrige angezettelt.

Im Sommer schrieb er dem tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus, er möge seine Unterschrift unter die von Prager Parlament beschlossene Ratifizierung Lissabons so lange verzögern, bis er, Cameron, voraussichtlich und hoffentlich im April die Macht in London übernehme und dann die schon hinterlegte Ratifizierung seines Landes mit dem Hinweis zurückziehen könne, dass der Vertrag ja noch nicht in Kraft sei.

Da Cameron und Klaus, zumindest was ihre Feindseligkeit gegenüber der europäischen Einigung angeht, Brüder im Geiste sind, stellt sich die EU darauf ein, dass die Reform frühestens im Frühjahr kommt. Das hat praktische und nicht sehr angenehme Folgen. Spätestens bis Ende des Jahres muss eine neue Kommission stehen. Das ist politisch ein wenig kompliziert, weil sie entgegen aller Planung nun doch nach den Regeln des alten, aber eben gültigen Vertrags von Nizza aus dem Jahr 2000 zusammengesetzt werden muss. Und der verlangt, dass sie ab jetzt mindestens einen Sitz weniger hat als die Zahl der Mitgliedsländer.

Aber welches Land verzichtet schon freiwillig auf einen Sitz? Und einen oder mehrere zwingen zu wollen könnte in einem Blutbad enden. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma, das ja mit Lissabon vermieden worden wäre, ist ein Trick, auf den sich die Partnerländer nach diskreten Sondierungen wohl verständigen werden: Das Land, das den künftigen Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU stellt, bekommt keinen Sitz in der Kommission. Und wenn Lissabon dann in Kraft tritt, dann wird der europäische Chefdiplomat eh Vizepräsident der Kommission - und alle sind wieder dabei.

Wenn sich in Dublin ein Ja abzeichnet, werden die Drähte zwischen den Hauptstädten heißlaufen, um einen Nachfolger für den jetzigen Außenbeauftragten Javier Solana zu finden. Das wird nicht einfach, weil die europäischen Sozialdemokraten diesen Posten für sich beanspruchen. Angesichts ihrer Wahlniederlagen wie zuletzt in Deutschland könnten Konservative und Liberale aber in Versuchung geraten, einen der ihren zu nehmen. Wer immer es wird, erst wenn der gefunden ist, ist der Weg für die anderen frei, ihre Kommissare zu benennen. Die müssen dann im November durch die Anhörungen im Europäischen Parlament. Und könnten im Dezember bestätigt werden. Nach den Regeln von Nizza, aber in der Hoffnung, ihre Arbeit bald nach denen von Lissabon fortsetzen zu können.

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