Referendum in der Türkei:"Die türkische Verfassung ist die beste, die sich ein Staat wünschen kann"

Demo von Erdogan-Anhängern in Köln

Demonstration von Anhängern des türkischen Präsidenten.

(Foto: dpa)

Die Verfassung muss abgelöst werden, weil das Militär sie geschrieben hat, argumentiert das Ja-Lager um Erdoğan. Verfassungsexperte Christian Rumpf aber erklärt, warum sie fast perfekt ist - und die Türkei keinen "starken Mann" braucht.

Interview von Deniz Aykanat

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan lässt das Volk darüber abstimmen, ob die Türkei künftig ein Präsidialsystem bekommen soll. Christian Rumpf ist Rechtsanwalt und Experte für türkisches Recht. Er kennt die türkische Verfassung wie wenige andere - nicht zuletzt, weil er sie ins Deutsche übersetzt hat. Hier erklärt er, was sich bei einem Ja der Türken ändert und warum Vergleiche mit dem französischen und amerikanischen System hinken.

Am 16. April stimmen die Bürger in der Türkei darüber ab, ob sie die Verfassung des Landes ändern wollen. Um was geht es dabei?

Das jetzige Regierungssystem soll abgeschafft werden. Das Besondere ist, dass der Präsident dann die Exekutivgewalt in seiner Person vereinigt. Bis jetzt ist sie aufgespalten, in den Präsidenten und den Ministerrat mit dem Ministerpräsidenten an der Spitze. Innerhalb so einer Regierung wird natürlich auch diskutiert. Das ist was grundlegend anderes, als wenn - wie nun von Erdoğan geplant - ein einziger Mensch Beschlüsse alleine fasst.

Was würde sich noch ändern?

Der Präsident könnte Minister einsetzen und entlassen wie er will, ohne das Parlament zu fragen. Doch das Entscheidende ist, dass der Präsident auch Parteichef sein dürfte. Das ist es, was den Verdacht weckt, dass die Türkei sich auf eine Diktatur zubewegen könnte.

Warum ist das ein Problem?

Das Problem ist die türkische politische Kultur und das Parteiensystem. Das Schicksal einer türkischen Partei hängt mehr als woanders von der Persönlichkeit des Chefs ab. Der Parteivorsitzende hat mehr Macht als zum Beispiel in Deutschland. Er redet überall dort mit, wo Posten zu vergeben sind. Kein Abgeordneter einer türkischen Partei kommt ins Parlament, ohne dass der Parteivorsitzende das abgesegnet hat. Sie sind ihrem Vorsitzenden also ein Stück weit verpflichtet.

Was passiert, wenn einer sich nicht an die Linie des Vorsitzenden hält?

Abweichler werde nicht nur abgemahnt, sondern fliegen aus der Partei raus. Wir haben in der Türkei verhältnismäßig viele Parteiausschlussverfahren. Wenn in Deutschland ein Parteiausschlussverfahren stattfindet, ist das immer eine große Sache. Dann sind das Leute, die der Partei tatsächlich richtig geschadet haben, indem sie zum Beispiel in Korruptionsfälle verwickelt waren.

Ein mächtiger Parteivorsitzender, der gleichzeitig Präsident ist - welche Rolle spielt dann noch das Parlament?

Wenn der Präsident gleichzeitig Parteivorsitzender ist, hat er dadurch auch massiven Einfluss auf das Parlament. Denn Parlament und Präsident werden ja am selben Tag gewählt. Die Mehrheitspartei wird also vermutlich die Partei des Präsidenten sein. Wir müssen dann damit rechnen, dass die stärkste Partei - also in der Türkei wohl die AKP - keinen Gesetzesentwurf einbringt, der nicht vorab vom Präsidenten abgesegnet wurde. Er kann so an der Gesetzgebung mitwirken. Das ist aber eigentlich Aufgabe des Parlaments.

"Vergleiche zu schließen ist in der Türkei nicht schick. Das macht man nicht"

Es wird oft kritisiert, dass Erdoğan künftig mit Präsidialverordnungen regieren könnte. US-Präsident Trump macht doch aber auch nichts anderes, oder?

Ja, das ist natürlich so ähnlich. Trump versucht, mit diesen Dekreten möglichst viel zu bewegen. Diese Gefahr gäbe es beim Präsidenten der Türkei dann auch. Das Beispiel Trump zeigt aber auch, dass einem US-Präsidenten solche Dekrete schnell um die Ohren fliegen können. Einfache Bundesgerichte können zum Beispiel den Vollzug aussetzen, wie wir es beim Einreisestopp erlebt haben. Im neuen türkischen System würde das so nicht funktionieren.

Aber zumindest das Parlament hätte im neuen System doch immer noch die Macht, Gesetze zu erlassen.

Nur auf dem Papier. Die Amerikaner haben ein System, das es dem Präsidenten theoretisch erlaubt, sich zum Diktator zu entwickeln. Die Parteien dort würden das aber nicht dulden. Selbst die Republikaner nicht. Wir sehen ja gerade, dass Trump bei seinen eigenen Leuten aufläuft. In der Türkei hingegen entspricht das nicht der politischen Kultur.

Wie wäre das denn bei einem Präsidenten Erdoğan und seiner Partei?

So ein Patt wie zwischen Trump und den Republikanern wäre in der Türkei gar nicht möglich. Wenn Erdoğan sagt, Bürger bestimmter Länder dürfen nicht mehr in die Türkei einreisen, dann würden sich die AKP-Abgeordneten im Parlament die Jacketts zuknöpfen. Das gilt in der Türkei als Geste der Unterwürfigkeit. Die würden alle mitmachen. Ganz selbstverständlich.

Es kann doch aber nicht alles nur von der politischen Kultur und den Gepflogenheiten abhängen. Denn dann wäre es ja letztlich egal, welches Regierungssystem die Türkei bekäme.

Man sollte aber nicht nur darauf schauen, was der Präsident darf. Die wichtigere Frage ist: Was darf das Parlament noch in so einem System. Und da ist das amerikanische System strukturell stärker als das, was Erdoğan jetzt im Sinn hat. Der Kongress zum Beispiel besteht aus zwei Kammern, die auch mal gegeneinander agieren und zu Kompromissen zwingen. Das nennt man Checks and Balances.

Man kann sich den starken Präsidenten in den USA ohne Gefahr für die Demokratie außerdem leisten, weil die Amerikaner einen starken Föderalismus haben. In einem Zentralstaat wie der Türkei entfallen diese Korrektive des Föderalismus. So ist es ja auch in Deutschland. Der Föderalismus trägt maßgeblich zu einer ausgewogenen Politik bei.

Einer der großen Kritikpunkte an der Reform ist, dass der türkische Präsident massiven Einfluss auf die Justiz bekäme, er dürfte einen Großteil der Richter ernennen.

Erdoğan versucht hier, das Volk zu verführen, indem er sagt: Eine Justiz, die unabhängig ist - das kann ja völlig schieflaufen. Da muss demokratische Kontrolle her. Deshalb sollen künftig sieben Mitglieder des wichtigen Richterrates durch das Parlament ernannt werden und sechs Mitglieder durch den Präsidenten selbst. Da die stärkste Partei die Präsidialpartei wäre, hätte der Präsident immer Einfluss auf diesen Rat. Vor allem dadurch, dass dessen Mitglieder eine Amtszeit von vier Jahren haben. Wer wieder gewählt werden will, nimmt zwangsläufig Rücksicht auf die Wünsche des Präsidenten.

Auch in den USA werden die wichtigsten Richterposten durch die Politik bestimmt.

Ja, darauf könnte sich Erdoğan natürlich berufen. Der US-Präsident allein darf die obersten Richter vorschlagen und ernennen, allerdings unter Mitwirkung des Senats. Das ist natürlich harter Tobak, wenn man davon ausgeht, dass eine Justiz unabhängig von der Exekutive sein sollte. Die Unabhängigkeit ist im amerikanischen System aber trotzdem gewahrt: Denn sitzt der Richter erst einmal in seinem Sessel, bestimmt er selbst, wann er ihn wieder verlässt. In Deutschland ist es wieder anders.

Dort könnten aber auch die Regierungsparteien im Bundestag ihre Wunschkandidaten durchsetzen.

Im Prinzip ja. Aber wir können uns glücklich schätzen, dass die Politik sich in Deutschland immer geeinigt hat. Mit so einer Art Gentleman-Agreement. Jetzt muss mal wieder ein Grüner rein, zum Beispiel. Diese Art von Einigungskultur ist in der Türkei - vor allem unter einem starken Präsidenten - weniger zu erwarten. Dort kennt man das kaum. Das merke ich ja schon als Anwalt im türkischen Gerichtssaal. Vergleiche zu schließen ist nicht schick. Das macht man nicht. Man gewinnt einen Prozess oder man geht mit Pauken und Trompeten unter. Und genauso laufen in vielen Fällen dann auch politische Kompromisse ab. Oder besser gesagt: Es gibt dann keine wirklichen politischen Kompromisse.

"Die türkische Gesellschaft ist mit der aktuellen Verfassung hervorragend gefahren"

Wie könnte das Parlament den Präsidenten denn noch kontrollieren?

Die üblichen Kontrollbefugnisse eines europäischen Parlaments, also Misstrauensvotum und Vertrauensfrage, wären in der neuen Verfassung gestrichen. So hätten wir als effektiven Kontrollhebel nur noch das sogenannte Ermittlungsverfahren. Das Parlament könnte das anleiern, um einen Minister oder Präsidenten strafrechtlich zu belangen. Nur, wenn der türkische Präsident diesen starken Einfluss auf das Parlament hat, wird es dann jemals zu so einem Ermittlungsverfahren kommen? Das ist sehr unwahrscheinlich. Einen Hebel möchte ich aber noch nennen: Präsidialverordnungen könnten immerhin bereits durch eine Parlamentsminderheit vor das Verfassungsgericht gebracht werden.

Präsident und Parlament würden unter der neuen Verfassung am selben Tag gewählt. Das wird von Gegnern der Reform kritisiert.

Weil parallele Wahlen dazu führen, dass - jedenfalls unter den türkischen politischen Verhältnissen - die Partei des Präsidenten regelmäßig die stärkste Partei sein wird. Und wenn es eine satte Mehrheit ist, dann haben kleinere Parteien selbst dann keine Chance, wenn sie sich zusammentun. Erdoğan argumentiert hier gerne mit dem Beispiel Frankreich, wo ähnlich gewählt wird, nur mit einem Monat dazwischen. Auch in Frankreich ist die Idee dass Präsident und Parlamentsmehrheit nicht gegeneinander regieren. In Frankreich ist aber der Unterschied, dass es weiterhin die Regierung gibt. Die wird vom Präsidenten zwar ernannt, aber er kann sie nicht willkürlich bestellen und entlassen. Außerdem ist der Präsident in der Regel nicht gleichzeitig Parteivorsitzender. Daneben gibt es noch den Premierminister, der dem Parlament gegenüber verantwortlich ist.

Erdoğan pickt sich aus den Präsidialsystemen der USA und Frankreichs das heraus, was ihm passt.

Wenn sie zwei Beispiele durcheinander mischen, kann viel rauskommen. Von supergut bis superschlecht. In der Türkei käme nichts Gutes heraus. Dort wird es aber als Stabilitätsfaktor gesehen, dass der Präsident sich immer auf die stärkste Partei stützen kann. Dadurch kommen aber eben die diktatorischen Elemente rein. Es gibt bei diesem System, das Erdoğan anstrebt, nur die Wahl zwischen sehr stabil und sehr instabil. Dazwischen gibt es eigentlich nichts.

Sie spielen auf das Argument vieler Reform-Befürworter an, dass die Türkei "einen starken Mann" braucht. Und tatsächlich läuft ja auch einiges schief in der Türkei. Was ist an Erdoğans Argument dran?

Nichts. Das Land steckt zwar in einer Krise. Das liegt aber nicht an der Verfassung, sondern an den aktuellen politischen Akteuren und ihren verantwortungslosen Eingriffen in Staat und Gesellschaft.

Die Alternative ist daher nicht, eine Verfassung zu stricken, die einen einzigen Mann nach oben bringt. Beispiel Italien: Das beweist, dass eine halbwegs gesunde politische Gesellschaft es sich leisten kann, pro Jahr drei Regierungen zu ertragen. Die türkische Gesellschaft ist mit der aktuellen Verfassung hervorragend gefahren. Das Starke-Mann-Argument zieht also nicht.

Die Verfassung stammt aber aus der Feder des Militärs nach dem Putschversuch von 1980. Gibt es da nicht Bedarf an Reformen?

Es ist die beste Verfassung, die sich ein Staat wünschen kann. Ich habe das schon 1982 gesagt, als alle noch dagegen gewettert haben. Da war ich noch zu jung, da hat man mich noch nicht so ernst genommen. Aber es hat sich bewahrheitet. Die erste Regierung, die 1983 kam, war bereits eine Regierung gegen den Willen des Militärs. Turgut Özal hat damals zwei Mal einen Antrag gestellt, um zu den Wahlen zugelassen zu werden. Er wurde vom Militär zweimal abgelehnt. Beim dritten Mal merkten sie, "das geht nicht, wir müssen den zulassen". Prompt wurde er Ministerpräsident. Und General Kenan Evren als Präsident ließ ihn gewähren. Özal fing damals schon an, das Militär zurechtzustutzen. Unter einer Verfassung, die immer als militaristisch verunglimpft wird.

Aber passt sie auch zur EU? Immerhin ist die Türkei noch Beitrittskandidat.

Eben. Die Verfassung ist auf höchstem europäischem Stand. Die Türkei setzt alle EU-Richtlinien um, oft schneller als zum Beispiel Deutschland. Für mich ist diese Verfassung das Modell einer modernen, auf einen demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaat zugeschnittenen Verfassung. Was hapert, ist oft die Umsetzung.

Erdoğan führt gerne an, dass man die Verfassung ändern müsse, damit so etwas wie der Putschversuch am 15. Juli nicht noch einmal passiert.

Das ist Unsinn. Wenn man einen Putsch verhindern will, dann muss bei den Zivilisten, bei der politischen Elite das Bewusstsein da sein, dass so etwas nicht passieren darf. Und dass dieses Bewusstsein da ist, hat der 15. Juli gezeigt. Zivilisten und Politik haben in einem langen Entwicklungsprozess über das Militär gesiegt, deshalb ist auch der Putsch nicht gelungen. Nochmal: Die türkische Verfassung, wie sie jetzt ist, kann mit wenigen Handgriffen zur perfekten Verfassung gemacht werden. Durch die geplante Änderung aber wird sie zerstört.

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