Referendum in der Schweiz:Wenn Angst regiert

Schweiz,  Zuwanderung

Überall Angst: Das Votum gegen Zuwanderung schafft eine historische Zäsur.

(Foto: REUTERS)

Das Recht, Wohnort und Arbeitsplatz frei zu wählen, ist eine Art europäisches Heiligtum. Wenn sich die Schweizer davon verabschieden, stellen sie die Beziehungen zur EU insgesamt infrage. Doch die Angst, die zum Votum gegen Zuwanderung geführt hat, diese Angst existiert überall in Europa.

Ein Kommentar von Thomas Kirchner

Es ist immer faszinierend zu beobachten, wie Schweizer Politiker die Regeln ihrer direkten Demokratie verinnerlicht haben. Dazu gehört, krachende Niederlagen in Referenden scheinbar gelassen zu akzeptieren. So auch diesmal: Vielen Gegnern der Masseneinwanderungsinitiative sah man zunächst tiefe Bestürzung an. Man glaubte schon, jetzt komme ein "gopfertami" über ihre Lippen. Aber dann rissen sie sich doch zusammen und sagten, was sie immer sagen: Der Souverän hat entschieden.

Dabei gäbe es Anlass zu brüllen vor Schmerz. Das Ergebnis, wie knapp auch immer, ist ein Schlag ins Gesicht aller liberalen Schweizer. Es verlacht, was ihnen wichtig ist: Toleranz, Offenheit, Fairness. Gesiegt haben Engstirnigkeit und Verschlossenheit.

Die Abstimmung schafft eine historische Zäsur, ähnlich jener, mit der die Schweizer 1992 den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ablehnten. Damals signalisierten sie, dass das Beitrittsgesuch zur EU erst einmal in der Schublade bleiben sollte. Um ihre Wirtschaft nicht völlig abzukoppeln von Europa - schließlich treibt die Schweiz allein mit Baden-Württemberg mehr Handel als mit den USA -, gingen die Berner Politiker den Weg durch die Hintertür. Es gelang ihnen, ihre Wünsche in bilaterale Verträge zu gießen: etwa zu Landwirtschaft, Verkehr, der Anerkennung von Normen und eben auch zur Freizügigkeit.

So erhielt die Schweiz privilegierten Zugang zum europäischen Markt, ohne politisch dazuzugehören - ein guter Deal. Die EU war nie glücklich über die Rosinenpickerei, aber sie nahm sie hin, solange sich die Schweizer an die Regeln hielten.

Das tun sie nun nicht mehr. Das Recht, Wohnort und Arbeitsplatz frei zu wählen, ist ein Pfeiler der Integration, eine Art europäisches Heiligtum. Wenn sich die Schweizer bewusst davon verabschieden, stellen sie die Beziehungen zur EU insgesamt infrage. Das müssen die Europäer dem Nachbarn in der Mitte nun in gebotener Deutlichkeit klarmachen. Dann aber müssen EU und die Berner Regierung, so schwer es beiden Seiten fallen mag, versuchen, den Schaden zu minimieren.

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