Süddeutsche Zeitung

Referendum in Ägypten:Gegenwind in der Provinz

Lesezeit: 4 min

Ein Ausbruch aus dem Teufelskreis immer neuer Wahlen - so verkaufen die Muslimbrüder in der Provinz die neue Verfassung. Wenn die Ägypter an diesem Samstag im Referendum über sie abstimmen, können die erfolgsverwöhnten Islamisten auf einen Sieg hoffen. Doch neuerdings müssen sie auch auf dem Land mit Widerstand rechnen.

Von Sonja Zekri, Kairo

Sie haben gestritten, und wie! Haben einander verspottet, provoziert, sich gegenseitig Verrat vorgeworfen. Wie auch nicht, wenn Islam Masaud, der Jüngere, den Muslimbrüdern angehört - wie der Rest der Familie -, aber Ahmed, der Ältere, Gründungsmitglied der liberalen Verfassungspartei von Mohammed el-Baradei in Damanhur ist.

Sie haben gestritten wie Brüder, wie das ganze Land streiten sollte: "Ohne Hass, ohne Blut", sagt Ahmed. Er ist 22, Soziologiestudent. Sein Bruder Islam wurde 16. Er starb Ende November bei den schlimmsten Zusammenstößen in der verschlafenen Nildelta-Stadt Damanhur, zwei Autostunden von Kairo entfernt.

Es ging um die Verfassung, natürlich, über die Präsident Mohammed Mursi an diesem und am folgenden Samstag abstimmen lassen will. Aber eigentlich ging es um die Muslimbrüder. Eine aufgebrachte Menge zog vor das Hauptquartier der Islamisten in einem Mietshaus am Stundenplatz, 1500 Muslimbrüder, 500 Oppositionelle und Tausende, wirklich Tausende bezahlte Schläger, wie Ahmed sagt. Brandsätze flogen, auch Steine. Einer traf Islam am Kopf. Er starb auf dem Weg zum Krankenhaus.

Seitdem lässt Ahmed seine Mitgliedschaft in der Baradei-Partei ruhen: "Einige sagen bis heute, dass die Muslimbrüder Islam umgebracht haben, aber er war doch einer von ihnen!" In der Provinz ist der Streit noch verwirrender als in Kairo.

"Ich werde für die Verfassung stimmen. Ich will endlich Frieden"

Freitagmittag in Damanhur. Die Männer beten auf grünen Matten vor den Moscheen, und Nageja Mohammed Hegasi, 50, kauft ein Huhn für umgerechnet 4,50 Euro. Auf dem Hackklotz neben ihr liegt ein Klumpen Fleisch, in den Käfigen draußen sind Hühner, Gänse, Enten übereinandergestapelt, und ein Schwarm Fliegen kreist gleichmütig über Mensch und Tier. "Ich werde für die Verfassung stimmen, so wie mein Sohn", sagt Nageja und fragt in aller Unschuld: "Oder ist mit der Verfassung was nicht in Ordnung?"

Der Ladenbesitzer Abdallah Ahmed Abdel Mutalib mit himmelblauen Augen weiß, dass es allerhand Leute gibt, die viel an der Verfassung auszusetzen haben. Er will sie lesen, gleich heute, um sich ein Bild zu machen. Aber eigentlich ist auch er sicher: "Ich werde für die Verfassung stimmen. Es gibt zu viele verschiedene Parteien in diesem Land, zu viele Stimmen, zu viele Kämpfe. Ich will endlich Frieden."

Die Muslimbrüder, ihre Partei Freiheit und Gerechtigkeit, ihr Präsident und ihre Anführer tun ihr Bestes, um die Verfassung als alternativlosen Schritt auf dem Weg zu Ruhe und wirtschaftlicher Erholung zu preisen. Nach dem Gebet verteilen ein paar Männer Flugblätter vor einer Moschee in einem Vorort von Damanhur. Darin ist von der "schwierigen psychologischen Verfassung" des Landes die Rede, von großzügigen Rechten für Christen, Arbeiter, Justiz und Medien, welche die Verfassung gewähre, von "Stabilität, Verbesserung und Entwicklung": Nur die Zustimmung erlaube den Ausbruch aus einem Teufelskreis immer neuer Verfassungskommissionen und Wahlen, aus dem juristischen und politischen Stillstand.

Einer der Männer mit den Flugblättern ist der Innenarchitekt Abdel-Asis Scherif. Mit seinem kurzen Bart und der schwarzen Brille sieht er aus wie ein Muslimbruder, er spricht wie ein Muslimbruder - "Ägypten ist nicht gespalten! Ägypten ist einig! Die Presse lügt!" -, aber nein, er stehe hier nicht als Islamist, sondern aus Liebe zu Ägypten. Damanhur ist die Provinzhauptstadt, und bei den Wahlen haben die Muslimbrüder und Mursi die Dörfer erobert.

In Damanhur selbst aber, von wo sie ausschwärmen ins Hinterland, verlor Mursi im ersten Wahlgang gegen den linken Populisten Hamdin Sabbahi und gewann erst in der Stichwahl. Heute finden sich hier Männer wie der Friseur vom "Salon Walid", der die Kacheln seines Ladens abspritzt und sagt: "Die Bruderschaft ist ein Dreck." Sein Nachbar, der Kioskbesitzer, brummelt: "Sie klammern sich an die Macht wie ein Hund an den Knochen."

Gegenwind weht den einst so siegesgewissen Muslimbrüdern ins Gesicht. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dass jemand wie Abdel-Asis mit den Flugblättern nicht mehr so gern mit den Muslimbrüdern in Verbindung gebracht wird. Das Problem, sagt er, sei nicht die Arbeit der Islamisten gewesen, man habe über Jahrzehnte Glänzendes geleistet, zumal auf dem Land. "Aber die Regierung ist schlecht. Für den Waffenschmuggel im Hafen von Port Said, für Kriminalität und hohe Preise, für alles machen die Menschen die Muslimbrüder verantwortlich", zählt er auf. Der Tierarzt Nagi al-Said Gamhaui steht daneben. Er fährt oft zu den Bauern, kennt ihre Sorgen. Er ist Mitglied der Muslimbruderpartei, auch er hat beobachtet: "Wir sind nicht mehr so beliebt wie früher."

Die Liberalen haben den Weg in die Dörfer bis heute nicht gefunden

Natürlich gehen sie davon aus, dass sie es noch einmal schaffen können, dass ihr Apparat reibungsloser funktioniert als die neue, oft stotternde Maschinerie ihrer Gegner. Aber es fällt ihnen nicht mehr in den Schoß. In der Stadt sind kaum Plakate zu sehen. Sie haben nicht mal verbilligtes Küchengas verteilt, ihr alter Trick, um die Leute zu gewinnen, zumindest nicht in Damanhur.

Aber Mona Atteja, mit schwarzem Gesichtsschleier und einer schmutzigen Tasche auf dem Kopf, ist trotzdem wütend: "Sie haben gesagt, wenn ich der Verfassung nicht zustimme, muss ich eine Strafe zahlen und beim nächsten Mal wird mein Ausweis nicht verlängert." Ein Viertel der Menschen in Damanhur seien Bettler, sagt sie, die sind leicht einzuschüchtern.

Gamal Heschmat weiß dies alles. Er ist der höchste Vertreter der Bruderschaft am Ort. Er war schon Abgeordneter für die Bruderschaft, als Unabhängiger, als diese unter Mubarak noch verboten war, und jetzt, im ersten frei gewählten Parlament, das aufgelöst wurde.

Heschmat setzt auf die Bauern, auf das Land. "Dort helfen wir bei der Bewässerung, unsere Ärzte behandeln die Menschen kostenlos, wir bieten Sport und Armenhilfe an. Außer den Islamisten gab es niemanden auf den Dörfern - nur Mubaraks Regierungspartei NDP", sagt er. Die Liberalen, die neuen Säkularen, haben den Weg dorthin bis heute nicht gefunden. Seine Prognose für das Referendum fällt dennoch bemerkenswert bescheiden aus. 60 Prozent Zustimmung zur Verfassung will er in der Provinz holen, vielleicht sogar in Damanhur. "Wir können es schaffen. Aber wir müssen uns anstrengen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1551624
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 15.12.2012
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.