Rede der EU-Kommissionspräsidentin:Im Namen des Virus

Ursula von der Leyen leitet aus der Corona-Krise ihre Pläne ab: Europa müsse grüner und digitaler werden.

Von Karoline Meta Beisel, Björn Finke und Matthias Kolb

Rede der EU-Kommissionspräsidentin: Die EU-Kommission mit Präsidentin Ursula von der Leyen an der Spitze stellt mit einem Kriterienkatalog klar, welche wirtschaftlichen Aktivitäten grün sind. Die Entscheidung zu Gas- und Atomkraftwerken ist hoch umstritten.

Die EU-Kommission mit Präsidentin Ursula von der Leyen an der Spitze stellt mit einem Kriterienkatalog klar, welche wirtschaftlichen Aktivitäten grün sind. Die Entscheidung zu Gas- und Atomkraftwerken ist hoch umstritten.

(Foto: John Thys/AFP)

Ursula von der Leyen beginnt mit Dankesworten. Sie verneigt sich vor Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern, die sich um die Menschen gekümmert haben, die am Coronavirus erkrankt sind. Sie meint auch Lehrkräfte, Busfahrer und die Angestellten in Supermärkten, wenn sie all jene würdigt, die an "vorderster Front Tag und Nacht und Woche um Woche Risiken für uns alle eingegangen sind". Ihre Empathie, ihr Mut und ihr Pflichtbewusstsein seien inspirierend. Aber die Präsidentin der EU-Kommission zieht aus dem Geschehen der vergangenen Monate noch einen anderen Schluss, der Handlungsbedarf zeige: "Die Welt um uns ist zerbrechlich."

Die Abgeordneten müssen Corona-Fonds und EU-Haushalt erst noch zustimmen

Es ist folgerichtig, dass von der Leyen die Pandemie und deren Bewältigung ins Zentrum ihrer ersten "Rede zur Lage der Union" stellt. Das Virus, "tausendmal kleiner als ein Sandkorn", hat der Welt im Allgemeinen und der EU im Besonderen die eigene Verwundbarkeit aufgezeigt. An Corona liegt es auch, dass die CDU-Politikerin kurz vor halb zehn in Brüssel ans Rednerpult tritt, und nicht in Straßburg. Wegen der Ansteckungsgefahr tagt das Parlament weiter in der belgischen Hauptstadt und nicht im Hauptsitz des Europaparlaments. Frankreich ist verstimmt deswegen, von der Leyen jedoch dürfte die Entscheidung gutheißen, denn sie mahnt, die Pandemie habe "weder an Tempo noch an Wucht" verloren.

Diesmal wirbt von der Leyen also in Brüssel um das Wohlwollen der Abgeordneten, das musste sie schon im Juli vergangenen Jahres. Damals musste sie hart um eine Mehrheit kämpfen, weil die Staats- und Regierungschefs sie zur neuen Kommissionschefin auserkoren hatten, obwohl sie vorher nicht einmal bei der Europawahl kandidiert hatte. Jetzt kämpft sie für eine Mehrheit, die für Erfolg oder Misserfolg ihrer Präsidentschaft ebenso entscheidend ist. Denn die mehr als 700 Abgeordneten müssen von der Leyens wichtigstem Projekt noch zustimmen, dem 750 Milliarden Euro großen Corona-Wiederaufbaufonds sowie dem mehrjährigen EU-Haushalt.

In diesen Geldtöpfen stecke die Möglichkeit, jenen Zielen, mit denen sie 2019 die Abgeordneten auf ihre Seite brachte, näher zu kommen als je zuvor, dem grünen und digitalen Wandel. Bei einem pathetischeren Redner würde das vermutlich stark nach "Krise als Chance" klingen. Von der Leyen aber bleibt lieber bei eher nüchternen Äußerungen zur Sache - und erklärt zu Beginn, welche konkreten Lehren die EU aus der Pandemie für den Gesundheitssektor ziehen müsse.

"Für mich liegt klar auf der Hand: Wir müssen eine europäische Gesundheitsunion schaffen", sagt sie, und bekommt dafür viel Beifall. Sie schlage vor, die Europäische Arzneimittel-Agentur und das Seuchenbekämpfungszentrum ECDC mit mehr Befugnissen auszustatten. Außerdem wolle die Kommission eine neue Agentur für biomedizinische Forschung aufbauen. Als Vorbild diene die US-Behörde Barda, die dort als Schnittstelle zwischen der Regierung und der Industrie fungiert.

Solche Forderungen haben auch andere schon erhoben, im EU-Parlament und in den Mitgliedstaaten. Wie ernst es den Hauptstädten mit dieser Forderung war, zeigte sich aber bereits beim Haushaltsgipfel im Juli. Dort strichen die Staats- und Regierungschefs der EU die zusätzlichen Mittel, die die Kommission für diese Aufgabe im Haushalt eingeplant hatte, aus der Rechnung wieder heraus, genau wie ein Gutteil der Mittel, die von der Leyen für europäische Forschungsprogramme reservieren wollte. Die Kommissionspräsidentin stellt sich darum klar auf die Seite der Abgeordneten: "Ich bin diesem Parlament sehr dankbar, dass es sich dafür einsetzen will, um die Kürzungen des Europäischen Rates wieder wettzumachen."

Die Rede, die fast 80 Minuten dauerte, war wochenlang vorbereitet worden. Im Sommer hatten die EU-Kommissare Vorschläge und Wünsche in von der Leyens Büro hinterlegt - oft inklusive passender Textbausteine. Auch die Mitgliedstaaten und die Chefs der großen Parlamentsfraktionen lieferten Ideen, bei Einzelgesprächen im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes, wo von der Leyen in ihrem Office-Home arbeitet und auch wohnt.

Trotz all diesen Inputs: Die Deutsche konzentriert sich am Mittwoch auf die Kernthemen ihrer Präsidentschaft. Das kommende Jahrzehnt müsse Europas "digitale Dekade" werden, sagt sie. Was das genau bedeutet, will die Kommission am Freitag erläutern. Europa müsse lernen, Industriedaten besser zu nutzen, und in Infrastruktur investieren, um "den Ausbau bis ins letzte Dorf" voranzutreiben. Acht Milliarden Euro sollten für die nächste Generation von Supercomputern investiert werden - und in mehreren "European Hydrogen Valleys" sollen moderne Wasserstoff-Kraftstoffe entwickelt werden. Wie erwartet nutzt von der Leyen die Rede, um ein neues Klimaziel für das Jahr 2030 vorzuschlagen, von bisher 40 Prozent auf nun mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990. "Wir können das schaffen", sagt sie - und erinnert damit an das berühmt gewordene "Wir schaffen das" von Bundeskanzlerin Angela Merkel aus dem Jahr 2015.

Sie will, dass die EU-Staaten künftig Sanktionen nicht mehr einstimmig beschließen müssen

Der Migrationspolitik widmet sich von der Leyen erst gegen Ende ihrer Rede - ein Zeichen dafür, dass das Thema die Nachrichten nicht in allen Ländern der EU in den vergangenen Tagen so dominiert hat wie in Deutschland. In der kommenden Woche will die Kommission neue Vorschläge für die europäische Asylpolitik präsentieren - darum wird von der Leyen in ihrer Rede noch nicht allzu konkret. Sie stellt aber klar, dass sich an einem künftigen europäischen Asylsystem tatsächlich alle Staaten beteiligten müssten: "Wenn wir mehr tun, erwarte ich, dass alle Mitgliedstaaten mitziehen." In der Vergangenheit waren alle Einigungsversuche daran gescheitert, dass Staaten wie Polen oder Ungarn sich weigerten, an einer Verteilung von Flüchtlingen in der EU mitzuwirken - andere Länder aber keiner Lösung zustimmen wollten, bei der nicht alle Staaten mitmachten.

Erst nach der Rede schwappt die deutsche Debatte dann doch noch ins EU-Parlament. Jeder Mensch habe seine Würde, auch wenn extreme Rechte das anders sähen, sagt von der Leyen während der Debatte. Als der AfD-Abgeordnete Jörg Meuthen schimpft, das sei Blödsinn, weist sie das zurück: "Das macht ihn wütend. Aber so ist die Demokratie, das müssen sie ertragen."

Von der Leyen hatte stets den Anspruch einer "geopolitischen Kommission" formuliert - doch in den vergangenen turbulenten Monaten wirkten die Europäer mehr wie Getriebene als wie Gestalter. Also beginnt der außenpolitische Teil mit einem Plädoyer für globale Zusammenarbeit. Ohne die USA und China zu nennen, kritisiert sie jene Staaten, die sich entweder aus den gemeinsamen Institutionen zurückziehen. Europa wolle, dass möglichst viele Menschen eine Corona-Impfung erhalten: "Impfstoffnationalismus gefährdet Leben. Impfstoffkooperation rettet sie."

Um international glaubwürdiger zu sein, müsse die EU schnell reagieren können, sagt von der Leyen und kritisiert jene Mitglieder, die kritische Stellungnahmen verwässern oder bremsen. Als Lösung wirbt sie wie ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker dafür, das Einstimmigkeitsprinzip aufzuheben, zumindest wenn es um Menschenrechtsverletzungen und Sanktionen geht. Anders als den US-Präsidenten, deren traditionelle "State of the Union" die Europäer geklaut haben, stehen von der Leyen hier nur Appelle zur Verfügung. Die Mitgliedstaaten müssten selbst entscheiden, sich zu entmachten.

Die Vergiftung des Oppositionellen Nawalny sei "kein Einzelfall"

"Die EU ist auf der Seite der belarussischen Bevölkerung", ruft sie. Über Russland sagt die ehemalige Verteidigungsministerin: Die Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny sei "kein Einzelfall" und erinnere an Moskaus aggressive Außenpolitik in Syrien oder der Ukraine sowie andere Giftattacken. "Dieses Muster ändert sich nicht - und keine Pipeline wird daran etwas ändern." Unterstützung für das Projekt Nord Stream 2 klingt anders.

Pessimistisch klingt von der Leyen auch beim Brexit. Mit jedem Tag würden die Chancen geringer, mit Großbritannien bis Ende Oktober ein Abkommen zu erzielen. Dass sie Michel Barnier als "besten und erfahrensten Unterhändler" lobt, kommt im Parlament gut an, wo der Franzose sehr beliebt ist, und sendet an London das Signal, dass die EU-27 geschlossen bleiben wird.

In der mehr als dreistündigen Debatte mischt Manfred Weber (CSU) in sein Lob auch Kritik. So habe die Kommission zum Thema Digitalisierung bislang zwar Grün- und Weißbücher vorgelegt, es habe aber noch keinen echten Fortschritt gegeben, klagt der oberste Christdemokrat im Europaparlament. Es müsse alles darauf ausgerichtet werden "Jobs, Jobs, Jobs" zu schaffen. Das Bekenntnis zu mehr Klimaschutz sei "historisch", lobt Dacian Cioloș von Renew Europe, doch der Liberale sehnt sich wie viele Rednerinnen nach konkreten Ideen: "Es ist höchste Zeit, Gesetzesvorschläge zu präsentieren und nicht nur Absichtsbekundungen." Die Grünen mahnen, die Handels- und Landwirtschaftspolitik an das neue Klimaziel anzupassen. Manon Aubry, die Fraktionschefin der Linken, hat von der Leyen nicht überzeugen können: "Ihre Worte ändert sich ein bisschen, aber das Rezept bleibt gleich: Austerität, Wettbewerb und freie Märkte. Das hat uns an den Rand des Ruins gebracht."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: