Süddeutsche Zeitung

Rechtsterrorismus:Das große Versäumnis

Lesezeit: 2 min

Ein Jahr nach dem Mord an Walter Lübcke stehen schmerzhafte Erkenntnisse bevor.

Von Matthias Drobinski

Am 2. Juni um kurz nach Mitternacht trat nach den Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft der Rechtsterrorist Stephan E. auf die Veranda eines Hauses bei Kassel und schoss aus nächster Nähe Walter Lübcke, dem Kasseler Regierungspräsidenten, in den Kopf. Die Tat war, ist ein Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik: Erstmals traf ein rechtsextremistisch motivierter Mord einen bodenständigen CDU-Mann - keinen Flüchtling oder fremd wirkenden Menschen, wie so oft.

Erstmals fanden die zahllosen Drohungen gegen Politiker, die versuchten, menschlich und pragmatisch das Land durch die Flüchtlingskrise zu steuern, eine Vollendung. Es gab keine knappe Rettung wie bei Henriette Reker, der Kölner Oberbürgermeisterin. Es offenbarte sich, was die Attentate von Halle und Hanau bestätigen sollten: Es gibt in Deutschland einen mörderischen, staatsgefährdenden Rechtsterrorismus.

Auch ein Jahr nach der Tat steht man fassungslos vor den Wahrnehmungslücken, die dem Tod von Walter Lübcke vorausgingen. Stephan E. und sein mutmaßlicher Helfershelfer Markus H. waren keine Täter aus dem Nichts. Sie waren keine "abgekühlten Rechtsextremisten", die auf einmal losschlugen, wie es die hessischen Ermittlungsbehörden nach der Tat darstellten. Seit seiner Jugend war Stephan E. ein extrem gewalttätiger Rechtsextremist; "der Mann ist brandgefährlich", schrieb der damalige hessische Verfassungsschutzpräsident an den Rand der Akte - trotzdem wurde diese Akte 2015 aus dem aktiven Bestand des Amtes gelöscht.

Auch H. war den Behörden als ideologisch gefestigter Neonazi bekannt - und konnte trotzdem Waffen horten. Er war es, der das Video ins Netz stellte, in dem Lübcke sagte, dass jederzeit das Land verlassen könne, wer die Werte des Grundgesetzes nicht teile. Es machte Lübcke zur Hassfigur der Rechten; Erika Steinbach teilte es im Februar 2019 noch einmal, mit furchtbarem Erfolg.

Heute würde das alles nicht mehr passieren, betonen in Hessen Verfassungsschützer wie Polizisten. Daran stimmt, dass bei ihnen die Aufmerksamkeit zugenommen hat - und dass auch die meisten Polizisten und Verfassungsschützer erschüttert über die Blindheit vor dem Lübcke-Mord sind. Es stimmt aber auch, dass diese Zunahme von einem deprimierend niedrigen Level aus geschieht: Gegen mehr als drei Dutzend Polizisten wird wegen rechter Umtriebe ermittelt; noch immer ist ungeklärt, wer aus der Polizei heraus der Anwältin Seda Basay-Yildiz Morddrohungen schickte. Und eine Umfrage unter Hessens Polizisten, vorgestellt im Februar, beruhigt nicht: Ja, die übergroße Mehrheit dieser Polizisten steht zum Grundgesetz, zur offenen Gesellschaft. Aber mehr als 20 Prozent der Befragten schätzten sich als mehr oder weniger rechts ein. Und jeder Dritte hat schon erlebt, dass es auf seiner Wache nicht nach Recht und Gesetz zuging.

In zwei Wochen wird in Frankfurt der Prozess gegen den mutmaßlichen Lübcke-Mörder beginnen; bald wird ein Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag seine Arbeit aufnehmen. Vieles, was dort offenbar werden wird, dürfte sehr schmerzhaft sein - für die Behörden, die Angehörigen Lübckes, für alle, die fürchten müssen, Opfer des rechten Terrors zu werden. Aber Schmerz ist ein gutes Mittel gegen die Gleichgültigkeit.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4923425
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.06.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.