Rechtsstaatsprobleme in der EU:Mechanismus gegen Trickser und Täuscher

Budapest Overtime-Law Protests Continue Into New Year

Immer wieder kommt es in Ungarn zu Protesten gegen die Politik von Viktor Orbán, hier eine Szene aus dem Jahr 2019.

(Foto: Laszlo Balogh/Getty Images)

In immer mehr EU-Ländern werden Richterinnen, Journalisten und Aktivisten von Regierungen unter Druck gesetzt. Das Ziel, bei Rechtsstaatsproblemen weniger EU-Geld auszuzahlen, ist fast erreicht - gegen den Widerstand aus Polen und Ungarn.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Kaum hatte Katarina Barley von diesem Sondergremium des Europaparlaments gehört, wollte die frühere Bundesjustizministerin mitmachen. Der Name "Democracy, Rule of Law and Fundamental Rights Monitoring Group" ist sperrig, aber die 14 Abgeordneten beobachten genau, wie es um die für EU so wichtigen Prinzipien wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit oder Minderheitenschutz steht. Und diese werden immer öfter bedroht und relativiert - vor allem in jenen Staaten, die 2004 oder später der EU beigetreten sind. Als Ausnahme gelten nur Estland, Lettland und Litauen.

"Die Gruppe entstand 2018 nach den Morden an den Journalisten Ján Kuciak in der Slowakei und Daphne Caruana Galizia in Malta, doch uns war schnell war klar, dass wir mehr Länder im Blick haben müssen", sagt Barley, die seit 2019 im Europaparlament sitzt. Neben den "Goldene Visa"-Programmen in einigen Mitgliedsstaaten, wo EU-Staatsbürgerschaften auch an Kriminelle verkauft wurden, hat die Gruppe Bulgarien in den Fokus genommen. Sie achtet zudem bei allen EU-Ländern genau darauf, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie nicht missbraucht werden, wie dies im Frühjahr etwa in Ungarn befürchtet worden war.

Niemand hätte vor zwanzig Jahren solche Rückschritte für möglich gehalten

Die Liste der EU-Mitglieder, die Barleys Gruppe untersuchen könnte, ist lang: Tschechiens Premier Andrej Babiš wird vorgeworfen, unrechtmäßig EU-Subventionen zu erhalten und weiter sein Agrofert-Wirtschaftsimperium zu kontrollieren. In Slowenien nennt Premier Janez Janša die Nachrichtenagentur STA eine "nationale Schande", weil sie kritische Interviews publiziert. In Rumänien wurde nach einem Regierungswechsel der Umbau der Justiz gestoppt, aber Korruption grassiere weiter, und Einschüchterungsversuche gegenüber Staatsanwälten seien üblich, berichtet Monika Hohlmeier, die Chefin des Haushaltskontrollausschusses im EU-Parlament. "Wir dürfen nicht nur nach Warschau und Budapest schauen, seit fünf Jahren gerät auch anderswo vieles bedenklich ins Rutschen", sagt die CSU-Politikerin.

Dass es nach einem EU-Beitritt eines Landes und den dafür nötigen Reformen zu solchen Rückschritten kommen könnte, hatte vor zwanzig Jahren niemand für möglich gehalten. Der seit 2009 geltende Vertrag von Lissabon ermöglicht zwar in Artikel 7 ein Verfahren gegen ein Mitgliedsland, wenn die grundlegende Werte der EU "verletzt" werden. An dessen Ende könnte der Entzug des Stimmrechts stehen. Gegen Ungarn setzte das EU-Parlament 2018 diesen Schritt durch; ein Jahr zuvor war die EU-Kommission gegen Polen aktiv geworden. Auslöser war die Justizreform der rechtsnationalen PiS-Regierung, die nach Expertenmeinung die Unabhängigkeit der Gerichte bedroht. Geschehen ist seither wenig: Orbán tut nichts gegen die Korruption, sondern gängelt Medien und schikaniert die Zivilgesellschaft. Polens Regierung ignoriert Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), und PiS-Politiker hetzen gegen Minderheiten. Für Hohlmeier steht schon lange fest: "Das Artikel-7-Verfahren funktioniert nicht, weil dafür Einstimmigkeit nötig ist."

Nun gibt es aber in Brüssel die Hoffnung, bald ein wirksameres Instrument zu erhalten. Ein Mechanismus soll ermöglichen, dass die Zahlung von EU-Geld an Mitgliedsstaaten vermindert werden kann, wenn grundsätzliche Probleme bei der Rechtsstaatlichkeit festgestellt werden. Die Gespräche zwischen Europaparlament und den Mitgliedstaaten sollen am Donnerstag beendet werden. Hohlmeier, die zum Verhandlungsteam gehört, unterstützt den sich abzeichnenden Kompromiss: "Ich bin zuversichtlich, dass sich dieser Mechanismus anwenden lässt." Als Chefkontrolleurin verfolgt sie seit Jahren jene Politiker und Unternehmen, die "tricksen, täuschen und tarnen", um möglichst viele Fördergelder aus Brüssel zu erhalten und Rechenschaft über deren Verwendung vermeiden.

Künftig wäre eine qualifizierte Mehrheit der EU-Staaten nötig, um die von EU-Kommission vorgeschlagene Kürzung zu verhängen - dafür müssen mindestens 15 Mitglieder zustimmen, die 65 Prozent der Gesamtbevölkerung repräsentieren. Das ist zwar schwächer als der ursprüngliche Vorschlag, wonach eine qualifizierte Mehrheit nötig gewesen wäre, um die Sanktionen abzuwenden - aber viel effizienter als die nötige Einstimmigkeit beim Artikel-7-Verfahren.

Katarina Barley ist enttäuscht über die zögerliche Haltung der EU-Kommission

Die EU-Abgeordneten haben der deutschen Ratspräsidentschaft noch andere Verbesserungen abgerungen. Der Mechanismus soll etwa präventiv ausgelöst werden können, also bereits wenn sich die Gefahr abzeichnet, dass die finanziellen Interessen der EU berührt sind - und es kann auch zu Strafen führen, wenn Gerichtsurteile nicht umgesetzt werden oder "effektiver Rechtsschutz" missachtet wird. Bisher sind Behörden in Tschechien und Ungarn nämlich äußerst langsam, Ermittlungen wegen möglicher Korruptionsfälle aufzunehmen. Klar ist, dass Ungarn und Polen diesen Kompromiss ablehnen - offen ist, ob sie ihre Drohung umsetzen und das komplette Finanzpaket inklusive der Corona-Hilfen per Veto stoppen.

Katarina Barley begrüßt, dass beim Mechanismus nun alle Werte, die in Artikel 2 des EU-Vertrags genannt werden, berücksichtigt werden: Man müsse die Einschränkungen in ihrer Gesamtheit sehen, um die schädliche Wirkung zu erkennen, sagt die SPD-Politikerin. Sie lobt daher die Rechtsstaatsberichte, die die Kommission für alle 27 EU-Staaten vorgelegt hat: "Polen und Ungarn können nicht mehr behaupten, zu Unrecht an den Pranger gestellt zu werden." Medienpluralismus, Rechtsstaat oder Minderheitenschutz seien objektiv überprüfbar und dürften nicht national "interpretiert" werden, betont Barley.

Diese Werte müssten verteidigt werden, damit die Unterstützung für die EU auch in Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden nicht gefährdet wird: "Gerade jetzt, wenn die Mittel knapper werden, akzeptieren es viele Bürger nicht mehr, dass EU-Fördergelder versickern oder Regierungen offensichtlich Recht brechen." Barley verfolgt mit Entsetzen, was in Polen passiert und ist enttäuscht über die zögerliche EU-Kommission. Diese sollte viel schneller Vertragsverletzungsverfahren beantragen und vor allem beim EuGH Strafzahlungen beantragen, die fällig werden, wenn Urteile nicht umgesetzt werden, fordert sie: "Dies ist womöglich die einzige Sprache, die die Überzeugungstäter der PiS in Polen und vor allem Viktor Orbán in Ungarn verstehen."

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