Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:"Es gibt kein Wegducken mehr"

EU-Parlament und Ratspräsidentschaft einigen sich auf einen Mechanismus, nach dem es empfindliche Strafen geben soll für Mitgliedsländer, die gegen gemeinsame Werte verstoßen. Die Reaktionen sind positiv.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Erstmals in der Geschichte könnte es bald möglich sein, Verstöße eines Mitgliedstaates der Europäischen Union gegen deren grundlegende Werte finanziell zu ahnden. Eine Delegation des Europaparlaments einigte sich mit der deutschen Ratspräsidentschaft auf einen neuen Mechanismus, der etwa beim Abbau der Rechtsstaatlichkeit oder schwerwiegenden Steuervergehen zur Kürzung von Fördergeldern führen kann.

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sieht die Einigung als "Durchbruch", denn sie "schütze den EU-Haushalt vor Missbrauch durch die Mitgliedsstaaten". Für Michael Clauß, den deutschen EU-Botschafter, ist ein Hindernis aus dem Weg geräumt, sich mit dem Europaparlament auf den EU-Haushalt für 2021 bis 2027 zu einigen sowie auf den 750 Milliarden Euro umfassenden Corona-Hilfstopf. Clauß mahnt zur Eile: "Wir haben ein historisch einmaliges Finanzpaket von 1,8 Billionen Euro auf dem Tisch. Weil die zweite Welle der Pandemie viele Mitglieder hart trifft, haben wir keine Zeit zu verlieren."

Zufrieden mit dem Kompromiss sind auch die EU-Abgeordneten, die viele Verschärfungen durchsetzen konnten. "Die neue Verordnung ist praktikabel und bietet uns endlich effektive Sanktionsmöglichkeiten", sagt Monika Hohlmeier (CSU). Katalin Cseh aus Ungarn spricht von einem historischen Moment, der beweise, dass es möglich sei, "gegen die Autokraten zu gewinnen, die ihr Möglichstes tun, um Europa zu schwächen". Der FDP-Abgeordnete Moritz Körner hofft auf Verhaltensänderungen in Ungarn und Polen: "Der Kuschelkurs mit Viktor Orbán und PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński ist beendet. Es gibt kein Wegducken mehr."

In Brüssel wird nun spekuliert, ob sich Ungarns Regierungschef Orbán wirklich trauen wird, die Regelung zu blockieren

Gegen die Regierungen in Warschau und Budapest laufen bereits sogenannte Artikel-7-Verfahren wegen der Verletzung von EU-Grundwerten. Da für eine Strafe jedoch Einstimmigkeit erforderlich ist, blieben sie wirkungslos. Im September hatte die EU-Kommission dokumentiert, dass vor allem Ungarn und Polen den Einfluss der Regierung auf die Justiz ausgebaut haben. In Ungarn sei zudem die Medienvielfalt einem hohen Risiko ausgesetzt, unabhängige Medien würden "systematisch behindert und eingeschüchtert".

Die Zustimmung im Europaparlament gilt als sicher. Im Europäischen Rat, dem Gremium der Mitgliedstaaten, genügt eine qualifizierte Mehrheit. Ungarn und Polen haben hier kein Vetorecht, allerdings drohten beide mit einer Blockade von wichtigen Entscheidungen zum EU-Haushalt, wenn der Mechanismus wirklich eingeführt werde. Entsprechend kompromisslos hatte sich Viktor Orbán im Juli beim EU-Sondergipfel gegeben. Sein Veto hätte jedoch zur Folge, dass das Corona-Konjunkturprogramm nicht starten kann, auf das etwa Italien oder Spanien sehnsüchtig warten. In Brüssel wird nun spekuliert, ob sich Orbán dies wirklich traut. Er würde wohl die Kritik fast aller anderen Regierungen auf sich ziehen, wenn sich die EU ihren Bürgern gegenüber sowie international als handlungsunfähig erweist.

Der Mechanismus sieht vor, dass die EU-Kommission die Kürzung von Fördergeldern beantragen kann, wenn wegen einer Verletzung von Grundwerten wie Rechtsstaatlichkeit oder Medienfreiheit ein Missbrauch von EU-Mitteln droht. Damit wird der Anwendungsbereich ausgeweitet, und es kann früher eingeschritten werden, als im ursprünglichen Entwurf vorgesehen: Danach wären Strafen nur möglich gewesen, wenn Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit "in hinreichend direkter Weise Einfluss" auf die Haushaltsführung und die finanziellen Interessen der Union haben. Die Abgeordneten sorgten dafür, dass Strafen schneller verhängt werden können und verhinderten über eine "Notbremse"-Klausel die Sorge, dass ein Verfahren ewig hinausgezögert werden könnte.

Um die von der Kommission vorgeschlagene Kürzung zu verhängen, ist eine qualifizierte Mehrheit nötig. Es müssen also mindestens 15 EU-Staaten zustimmen, die 65 Prozent der Gesamtbevölkerung repräsentieren. Hier blieben die EU-Regierungen hart: Das Parlament hätte es gerne gesehen, dass eine qualifizierte Mehrheit nötig gewesen wäre, um die Sanktionen abzuwenden. Sowohl die EU-Kommission als auch die Mitgliedstaaten dürften also ein wirksames Instrument erhalten, doch es braucht den politischen Willen, dieses zu nutzen. Für Daniel Freund von den Grünen steht fest: "Der Wert dieses Mechanismus wird daran gemessen werden, wie schnell und effektiv er angewendet wird."

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