Die demokratische Welt schaut mit wachsender Sorge auf Israel, weil sich dort vollzieht, was man in anderen Staaten rund um den Globus schon seit Jahren beobachtet. Das Oberste Gericht soll entmachtet werden. Die Regierung von Benjamin Netanjahu will den Schlussstein aus dem System der Gewaltenteilung herausbrechen.
Sie betreibt ihre Pläne ganz unverhohlen, denn sie begnügt sich nicht damit, die Richterauswahl in eigene Hände zu nehmen und die Arbeit des Gerichts durch ein hohes Entscheidungsquorum zu behindern. Das Parlament, so sieht es die "Reform" vor, soll das Oberste Gericht im Konfliktfall überstimmen können. Die Mehrheitsgesellschaft solle dadurch stärker und das Land "demokratischer" gemacht werden, lautet die simple Botschaft.
Darin spiegelt sich die gefährliche Drift eines Populismus, die die Verfassungsgerichtsbarkeit an vielen Orten unter Druck setzt. Demokratie wird mit einem - oft nur angeblichen - Willen des Volkes gleichgesetzt. Verfassungsgerichte werden marginalisiert oder, häufiger, gleichgeschaltet. Ihre zentrale Rolle im demokratischen System - als Verteidiger von Minderheitsrechten und als Garant politischer Spielregeln - wird ignoriert oder geleugnet. Die ehemalige Verfassungsrichterin Monika Hermanns stellte kürzlich ernüchtert in ihrer Abschiedsrede fest: "Demokratie und Rechtsstaat werden auch in Europa gegeneinander in Stellung gebracht."
Die Gerichte verkommen zu Werkzeugen der Regierungen
Und dies, obwohl europäische Institutionen sich mit zunehmender Entschiedenheit dagegenstemmen: Gerade hat die EU-Kommission eine Klage gegen Polen angekündigt, um dessen Verfassungsgerichtshof zu zwingen, geltendes EU-Recht anzuerkennen. Einen Gerichtshof, der längst nicht mehr unabhängig, sondern ein "verlängerter Arm der PiS-Regierung" ist, wie Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments, es kürzlich zusammenfasste.
Das gilt auch in Ungarn. Das Verfassungsgericht hielt nach dem Wahlsieg von Viktor Orbáns Fidesz-Partei drei Jahre lang durch, dann hatte Orbán genügend linientreue Richter nachnominiert. Seither, so schreibt der Verfassungsrechts-Professor Gábor Halmai im Online-Portal Verfassungsblog, ist das Gericht eine feste Bank für die Regierung, sei es im Streit um die europäische Flüchtlingspolitik 2016, sei es drei Jahre später im Verfahren um die Kriminalisierung von Nichtregierungsorganisationen. Nur als die Regierung forderte, das Verfassungsgericht solle einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu den Pushbacks von Flüchtlingen die Gefolgschaft verweigern, verweigerten sich die Richter. Das war 2021 - ein einziges, mattes Nein.
Auch anderswo knirscht es. Der Rechtsstaatsbericht der EU-Kommission mahnt Länder wie Zypern, Lettland oder Slowakei zu Garantien für die Unabhängigkeit der Gerichte. Das rumänische Verfassungsgericht ist vom EuGH mehrfach gemahnt worden, den Vorrang des EU-Rechts durchzusetzen. Es sei nur noch ein Werkzeug der Politik, sagte kürzlich Rumäniens Ex-Justizminister Stelian Ion in der FAZ.
Nicht nur in Autokratien sind die Verfassungsgerichte gefährdet
Doch man muss nicht nur nach Osteuropa blicken. In Spanien waren der Oberste Justizrat und damit das von ihm zu besetzende Verfassungsgericht jahrelang Objekte eines zynischen Machtspiels, mitten im demokratischen Europa. Die konservative Opposition der Partido Popular (PP) blockierte mit ihrer Sperrminorität dessen Neubesetzung und damit eine Nachnominierung von Verfassungsrichtern - um sich möglichst viele PP-treue Richter zu erhalten, auch als Bastion gegen laufende Ermittlungen wegen diverser Finanzskandale. Erst vor wenigen Monaten lenkte der Justizrat ein und nominierte neue Richter.
Der Fall zeigt: Nicht nur in den Autokratien dieser Welt sind Verfassungsgerichte gefährdet. Der Oberste Gerichtshof der USA ist durch die mitunter brutalen Kämpfe um Richterposten derart politisiert, dass seine Autorität gefährdet ist, die eben auf Unabhängigkeit und Überparteilichkeit gründet. Und das österreichische Verfassungsgericht sah sich zu Zeiten des Kanzlers Sebastian Kurz heftigen Angriffen ausgesetzt.
Unter dem Druck autokratischer Herrschaft kann ein Gericht jedoch binnen kurzer Zeit zerbrechen, wie sich in der Türkei beobachten ließ. Einst spielte das Verfassungsgericht dort eine zentrale Rolle für die Verteidigung republikanischer Werte. Mit der Bestätigung des Kopftuchverbots an türkischen Universitäten stellte es sich 2008 entschieden gegen die Linie von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Doch nach 2010 gelang es der regierenden AKP, das zahlenmäßig aufgestockte Gericht mit Parteigängern zu besetzen.
Zwar zieht die in Istanbul lehrende Verfassungsrechts-Professorin Bertil Emrah Oder keine komplett negative Bilanz. Gelegentlich habe das Gericht die Grundrechte etwa von Journalisten und Wissenschaftlern verteidigt. "Das juristische Verhalten des Gerichts ist immer noch nicht vollständig lenkbar", schreibt sie im Verfassungsblog. Doch bei den für die Regierung wichtigen Verfahren gegen Dissidenten ist das Gericht auf Linie. Die Willkürurteile gegen den Unternehmer Osman Kavala hat es unterstützt, unbeeindruckt von den Interventionen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
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Können Verfassungsgerichte populistischem Druck standhalten? Eine geradezu epische Schlacht hat sich in Brasilien der Oberste Gerichtshof mit dem früheren Präsidenten Jair Bolsonaro geliefert. Für eine Verfassungsänderung, die den Gerichtshof hätte entmachten können, fehlte Bolsonaro die Mehrheit. Umso heftiger attackierte er das Gericht rhetorisch - das freilich Kurs hielt. Immer wieder verteidigte das Gericht etwa die akademische Freiheit, die Teilhaberechte der Zivilgesellschaft oder den Schutz der indigenen Bevölkerung.
Vor allem aber initiierte der Gerichtshof Untersuchungen wegen antidemokratischer Aktionen und der systematischen Verbreitung von Falschnachrichten - auch gegen den Präsidenten persönlich und dessen Söhne. Am Unabhängigkeitstag im September 2021 eskalierte der Streit. Bolsonaro forderte den Gerichtshof auf, die Ermittlungen einzustellen, sonst sei man gezwungen, zu tun, "was wir lieber nicht tun würden".
Der Gerichtshof überstand die dunkle Phase. Hätte Bolsonaro die Wahl gewonnen, hätte er das Gericht mit neuen Richtern womöglich doch noch auf Linie gebracht. Kurz nach dem Amtswechsel schlugen Bolsonaros Anhänger doch noch zu: Am 8. Januar stürmten sie Kongress, Regierungssitz und Gerichtshof in Brasília. Man verzeichnete erheblichen Sachschaden. Aber die Institution hat überlebt.