Rechtsextremismus:In Berlin-Neukölln geht die Angst um

Polizei Berlin

Manche Betroffene glauben an eine Verwicklung einiger Berliner Polizisten in die Taten Rechtsradikaler.

(Foto: Tim Brakemeier/dpa)
  • Innensenator Geisel und Polizeipräsidentin Slowik haben zu rechten Umtrieben im Berliner Bezirk Neukölln am Montag eine Bilanz vorgestellt.
  • Bewohner der besonders betroffenen und berühmten Hufeisensiedlung sprechen von einem "Klima der Angst", das die Anschläge geschaffen hätten.
  • "Es ist ja auch ein großes Misstrauen gegen die Polizei entstanden", sagt der Abgeordnete der Linken, Niklas Schrader.

Von Jan Heidtmann, Berlin

14 Brandstiftungen, 35 Sachbeschädigungen, 15 Diebstähle, dazu Beleidigungen und Drohungen - das ist die bisherige Bilanz der mutmaßlich rechtsradikalen Täter, die seit Jahren ihr Unwesen im Berliner Bezirk Neukölln treiben. Innensenator Andreas Geisel (SPD) und Polizeipräsidentin Barbara Slowik haben sie an diesem Montag vorgestellt. Die Kritik, die seit Anbeginn die Ermittlungen begleitet, konnten sie trotz dieser detaillierten Auflistung nicht wirklich ausräumen. "Es ist ja auch ein großes Misstrauen gegen die Polizei entstanden", sagt der Abgeordnete der Linken, Niklas Schrader.

Seit 2010 wurden im Berliner Bezirk Neukölln immer wieder Wohnungen, Cafés und Autos beschmiert, beschädigt oder gar angezündet. Die Serie lief bis zum vergangenen Jahr, als Wände mit Morddrohungen gegen Bürger besprüht wurden, die sich gegen rechts engagieren. Allein auf das Haus einer Sozialarbeiterin gab es sieben Anschläge. Zuvor hatte die Frau rechte Wahlkampfhelfer darauf hingewiesen, dass sie keine Werbung der NPD in ihrem Briefkasten haben wolle. Ihr wurden Steine ins Wohnzimmer geworfen, das Auto ihrer Tochter wurde mit "Juden raus" beschmiert.

Bewohner der besonders betroffenen und berühmten Hufeisensiedlung sprechen von einem "Klima der Angst", das die Anschläge geschaffen hätten. Dazu trägt auch bei, dass die Untersuchungen der Polizei mehrere Jahre kaum Erkenntnisse brachten; Anschlagswarnungen wurden nicht ernst genommen, hinzu kamen Fehler in den Ermittlungen, die manche Betroffene nicht als Pannen hinnehmen wollen. Sie glauben an eine Verwicklung einiger der Beamten in die Taten.

Im vergangenen Mai setzte Innensenator Geisel die Kommission "Fokus" ein: Bis zu 30 Beamte, die bislang nicht mit den Ermittlungen befasst waren, sollten alle 63 aufgelaufenen Ermittlungsverfahren noch einmal aufrollen, außerdem sollten sie mögliche Verstrickungen von Polizeibeamten prüfen. "Fokus" schaute sich zudem weitere 2800 Brandstiftungen seit 2013 in Neukölln und Umgegend an. Neun dieser Fälle rechnen sie nun der Tatserie in Neukölln zu, wie die Ermittler schreiben. Gleichzeitig stießen sie auf Dateien mit über 500 Namen von Aktivisten gegen rechts. Die drei Tatverdächtigen, darunter ein früherer AfD-Bezirkspolitiker, "betrieben eine teils akribische Aufklärung des politischen Gegners", heißt es weiter. Die Daten stammten teils aus sozialen Medien, es gebe aber auch "selbstgefertigte Fotos von Versammlungsteilnehmenden".

Die Ermittler von "Fokus" prüften auch, ob es Verbindungen zu den Tatverdächtigen des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gebe. Dafür konnten sie jedoch genauso wenig Anhaltspunkte finden wie für den Vorwurf, einzelne Polizeibeamte hätten die Tatverdächtigen von Neukölln möglicherweise mit Informationen versorgt. Ein Strafverfahren gegen einen Polizisten, der im Verdacht stand, Kontakt zu einem Rechtsradikalen zu haben, sei eingestellt worden.

Ferat Koçak ist einer der Betroffenen der Neuköllner Anschlagsserie. Am 1. Februar 2018 wurde sein Auto in einem Carport direkt neben dem Haus, in dem er mit seiner Familie wohnte, angezündet. Es brannte vollkommen aus. Koçak ist Kommunalpolitiker der Linken, der Bericht der Gruppe "Fokus" beruhigt ihn nicht. Zwar seien bei den Ermittlungen "schon sehr viele Fortschritte seit 2019 gemacht worden", sagt er. Aber da die Ermittlungen weiterhin laufen, ist der größte Teil des "Fokus"-Untersuchungsberichts als geheim deklariert worden. Koçak sieht darin eine "Hinhaltetaktik". So sind sich viele Betroffene wie er sicher, dass durch die ursprünglich schleppenden Ermittlungen verdeckte Ermittler geschützt werden sollen. "Wir als Betroffene trauen der Sache nicht."

Koçak und die Linke fordern seit Ende vergangenen Jahres, einen Ausschuss zur Untersuchung der Ermittlungen einzurichten. Entsprechende Petitionen wurden von 26 000 Menschen unterschrieben. Sie seien es leid, immer wieder von der Polizei vertröstet zu werden, sagt Koçak: "Wir haben jetzt Angst."

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