Als die FPÖ im Jahr 2000 zum ersten Mal Teil einer Regierungskoalition in Wien wurde, damals nur als Juniorpartner, war der Aufschrei in Europa gigantisch. In Brüssel wurden bis dahin undenkbare diplomatische Sanktionen gegen Österreich verhängt, das Mitgliedsland wurde monatelang wie ein Paria behandelt. Ein knappes Vierteljahrhundert später ist die Reaktion der EU auf den Wahlsieg der rechtspopulistisch bis rechtsextremen Partei kaum mehr als ein Achselzucken.
Das hat zum einen mit einem gewissen Gewöhnungseffekt zu tun. In sieben EU-Ländern – in Schweden, Finnland, Italien, Kroatien, Ungarn, den Niederlanden und der Slowakei – haben in den vergangenen Jahren rechts oder anderweitig populistisch geartete Parteien, die auf die EU schimpfen, Wahlen gewonnen. In vielen dieser Staaten regieren bereits Männer sowie eine Frau, die entweder selbst aus weit rechts stehenden Parteien stammen, mit diesen koalieren oder sich von ihnen tolerieren lassen. In Belgien und Tschechien könnte in absehbarer Zukunft Ähnliches passieren – in einigen Jahren vielleicht sogar in Frankreich.
Auch bei der Wahl des Europa-Parlaments Anfang Juni haben Parteien hinzugewonnen, die rechts von der bürgerlich-konservativen Europäischen Volkspartei stehen. Die rechtsextremen Patrioten für Europa, zu denen die FPÖ zählt, sind zur drittstärksten Fraktion aufgestiegen, Platz vier nimmt die rechtskonservative EKR-Fraktion ein. Hinzu kommen noch die rechtsradikalen Souveränisten. Der Trend ist damit klar – Europas Politik rückt nach rechts. Dass künftig womöglich in Österreich die FPÖ mitregieren wird, trifft die EU daher nicht wie ein Blitz aus blauem Himmel.
Orbán gilt in Brüssel als ein berechenbarer Quertreiber
Zumal – das ist ein zweiter Grund für die relative Gelassenheit in Brüssel – die politischen Vorstellungen der erfolgreichen Rechtsparteien nicht automatisch eins zu eins auf die EU-Ebene durchschlagen. So haben bisher weder der rechtspopulistische ungarische Premier Viktor Orbán noch sein eher linkspopulistischer, aber ebenso EU-feindlicher und Russland-freundlicher slowakischer Kollege Robert Fico die finanzielle und militärische Unterstützung der Europäer für die Ukraine gestoppt. Obwohl sie beide beständig dagegen wettern, obwohl ein Teil ihres politischen Erfolgs auf der Forderung nach „Frieden“ beruht – und obwohl sie es könnten. Orbán verzögert und verwässert die europäische Hilfe für Kiew zwar oft, was die EU-Partner nervt. Aber er gilt auch als berechenbarer Quertreiber, der weiß, wo die Grenze der Provokation ist – und sie nicht überschreitet, weil er das Geld aus Brüssel braucht.
Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, eine „Postfaschistin“, hat sich sogar allen Befürchtungen zum Trotz als eine der entschlossensten Unterstützerinnen der Ukraine in der EU entpuppt, die keinerlei Sympathie für den russischen Diktator Wladimir Putin zeigt. Ihr rechtspopulistischer niederländischer Gesinnungsfreund Geert Wilders wiederum, der im Wahlkampf ein Ende der Ukraine-Unterstützung versprochen hatte, wurde bei der Regierungsbildung in Den Haag von seinen Koalitionspartnern so eingemauert, dass das nicht passieren wird. Ähnlich könnte es in Wien laufen, sollte dort die FPÖ in die Regierung kommen, deren Vorsitzender Herbert Kickl im Wahlkampf ebenfalls die angebliche „EU-Kriegstreiberei“ angeprangert hat.
Bei einem anderen Thema, das Brüssel in Dauerschleife beschäftigt, sind die Konsequenzen der rechten Wahlerfolge hingegen sehr viel deutlicher spürbar – bei der Migration. In der Debatte darüber, wie die EU mit Flüchtlingen und Einwanderern umgehen soll, geben die Rechtspopulisten inzwischen politisch den Ton und legislativ die Marschrichtung vor. Denn anders als bei der Hilfe für die Ukraine oder der Politik gegenüber Putins Russland, über die finnische und schwedische Rechtskonservative völlig anders denken als jene in Ungarn oder Österreich, sind sich Europas Rechte in der Migrationsfrage grundsätzlich einig: Sie wollen, wie Orbán und Kickl es formulieren, eine „Festung Europa“, in die niemand ohne Erlaubnis hereinkommt.
Was die Migrationspolitik angeht, bilden die rechts regierten EU-Länder daher in der Union eine kritische – und wachsende – Masse, die eine immer härtere Linie diktieren kann. „Es gibt praktisch keine Tabus mehr, wenn es darum geht, die Zahl der Ankommenden zu senken“, sagt ein Diplomat in Brüssel. Selbst wenn dabei einige Länder gegen humanitäres Völkerrecht oder europäisches Recht verstoßen, schaue die EU-Kommission lieber weg, als Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.
Jenseits konkreter politischer Themen untergraben die Erfolge der Rechtspopulisten aber auch das Selbstverständnis der EU als Vereinigung von Ländern, die bei allen Unterschieden zusammen einen Fundus an liberalen, westlichen Werten teilen, vor allem Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. „Was bleibt von Europa übrig, wenn immer mehr Länder ins illiberale Lager wechseln und von Leuten regiert werden, denen diese Werte nichts bedeuten?“, fragt ein Diplomat in Brüssel. Er gibt auch eine Antwort: „Nicht viel.“