Marine Le Pen ist fürs Erste nicht mehr wählbar, nach dem Urteil in Paris ist sie aller Voraussicht nach für mindestens fünf Jahre raus aus dem politischen Spiel. Das ist, wenn es dabei bleibt – man weiß nie in diesen Zeiten, vielleicht gelingt es ihr ja doch noch, das Urteil aufheben zu lassen –, ein heftiger Schlag für ihre Partei. Rechte Bewegungen wie der Rassemblement National, dessen Gesicht sie seit Jahren ist, leben in besonderem Maße vom Charisma und dem Geschick ihrer Führungsfiguren, das zählt zu ihrem Wesen. Der Niederländer Geert Wilders hat das Prinzip sogar auf die Spitze getrieben: Er ist das einzige Mitglied seiner nationalkonservativen Partei für die Freiheit. Schon deshalb fiele sie wohl umgehend auseinander, wenn er die Bühne verließe.
Dem Rassemblement National droht dieses Schicksal nicht. Auch er ist fixiert auf seine Frontfrau (die zwar nominell nicht mehr Vorsitzende des RN ist, aber die Fäden weiterhin in der Hand hält). Sie war laut Umfragen auf bestem Weg, 2027 zur Präsidentin gewählt zu werden. Zur Gänze wird ihr Ausfall nicht kompensiert werden können. Aber Le Pen hat immerhin vorgesorgt, sie hat zugelassen, dass in Jordan Bardella ein junger Ersatzmann herangewachsen ist, dem viele zutrauen, die Partei mittel- bis langfristig als Vorsitzender zu weiteren Erfolgen führen zu können, vielleicht sogar schon bei der nächsten Wahl zum höchsten Staatsamt.
Und vor allem: Die politischen Ideen, für die Marine Le Pen steht, sind ungebrochen populär, Europas Rechte befinden sich seit Jahren auf breiter Front im Aufschwung, träumen von einer „Renaissance“ oder sogar „Rückeroberung“; die Ungereimtheiten der europäischen Politik, von der Le Pen und andere profitieren, werden ebenfalls nicht über Nacht verschwinden. Insofern ist der Pariser Gerichtsspruch für Europas demokratische Mitte – und insbesondere die deutsche Politik – vielleicht Anlass für ein kurzes Aufatmen. Aber kein Grund zur Entspannung. In drei Punkten wird das besonders sichtbar.
Die europäische Integration
Die brutale Art und Weise, mit der Donald Trumps USA die bisherige Ordnung zerschlagen, könnte die Stunde Europas sein. Doch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind zerstritten, ihre Vorstellungen von der Zukunft der Zusammenarbeit auf dem Kontinent unterscheiden sich zunehmend. Der Ungar Viktor Orbán, Geert Wilders, der Slowake Robert Fico, die Italienerin Giorgia Meloni, sie alle wollen wie Marine Le Pen und Jordan Bardella ein grundsätzlich anderes Europa: ein Europa, das zwar noch intensiven Handel miteinander treibt, in dem die wichtigen Entscheidungen aber von unabhängigen Nationalstaaten getroffen werden, in dem es also kaum noch eine Instanz gäbe, die Unwillige zu einem bestimmten Verhalten zwingen könnte. Wenn es nach dem RN geht, wird aus der EU-Kommission ein „Generalsekretariat“, ohne Entscheidungsgewalt. Frankreich first, Ungarn first, Italien first.
Wenn die Nationalisten ihren Willen bekommen, gäbe es etwa keine ambitionierte europäische Umwelt- oder Klimapolitik mehr; der Green Deal, Europas Antwort auf den Klimawandel, würde gestoppt oder rückabgewickelt. Vielleicht wäre es noch nicht einmal mehr möglich, sich auf offene Grenzen oder, ganz banal, auf eine einheitliche Norm für Aufladekabel zu einigen. Der wichtigste Daseinszweck dieses „anderen“ Europas wäre für die Nationalpopulisten, die europäische „Kultur“ oder „Zivilisation“ gegen angebliche Bedrohungen zu schützen. Der Charakter der EU als prinzipiell progressive Kraft würde sich verändern. Allein bei der Abwehr von Migration wäre die Gemeinsamkeit wohl noch groß genug.
Der Blick auf Russland
Der RN hat eine traditionell enge Beziehung zu Russland, empfing bis vor einigen Jahren auch Geld aus dem Kreml. Davon hat sich die Partei gelöst, der Blick ist nach dem Überfall auf die Ukraine skeptischer geworden. Doch die Frage, ob Russland eine Bedrohung darstellt für den Rest des Kontinents, sehen Le Pen und Bardella noch immer ganz anders als etwa Emmanuel Macron. Während der Präsident zuletzt zunehmend lauter Alarm geschlagen hat, beschwichtigen die RN-Vertreter.
Die größte Bedrohung für Frankreich sei nicht Moskau, sagte Le Pen kürzlich dem Figaro, sondern der islamistische Terrorismus: „Wenn Russland in drei Jahren schon in der Ukraine kaum vorangekommen ist, ist es wenig wahrscheinlich, dass es beabsichtigt, bis nach Paris zu kommen.“ Russlands Präsident Wladimir Putin trete dem Westen zwar zunehmend feindlich gegenüber. Aber deshalb werde er noch lange keinen Krieg anzetteln, das sei eine „Karikatur“.
Gemeinsame Verteidigung
Trump zwingt Europa zum Umdenken, der Kontinent muss seine Verteidigung nun zunehmend selbst organisieren. Konsequenzen hat das vor allem für Deutschland. Es ist groß, aber keine Atommacht und muss damit rechnen, dass über kurz oder lang der amerikanische Schutzschirm wegfällt. Macron hat wiederholt angeboten, dafür einen Ersatz zu bieten und die force de frappe, die französischen Atomwaffen, auch mit Berlin zu teilen. Die bisherige deutsche Reaktion war zurückhaltend. Die Frage wird immer dringender, doch unter einer nationalistischen Regierung in Paris wäre diese Option verbaut. Le Pen hat mehrmals ihren prinzipiellen Widerstand gegen eine solche elementare Kooperation mit Berlin zum Ausdruck gebracht. Einem Land, das sich komplett von der Nuklearenergie verabschiedet hat, traut sie nicht, sie sieht unauflösbare strategische Differenzen.
Dabei beginnt das Verteidigungsdilemma schon weit vor dem komplexen Thema Nuklearschutz. Sobald die Merz-Regierung im Amt ist, wird sie mit Frankreich und den wichtigsten europäischen Akteuren eine Arbeitsteilung bei der Rüstungsbeschaffung aushandeln müssen. Frankreichs Schiffbau-Industrie ist führend im Militärbereich, deutsche Hersteller liegen bei den Landfahrzeugen vorn. Es geht um die neu aufzubauende europäische Luftabwehr, um Raketentechnologie oder eine gemeinsame Cyber-Abwehr. Autonomie in der europäischen Verteidigung – Macrons Lieblingsthema – braucht es auch in der europäischen Rüstungsindustrie. Wie aber sollte da Vertrauen entstehen, wenn nur die nationale Karte sticht?