Viel zu viele Menschen drängen sich in den dunklen Hinterraum im Gasthaus "Zum alten Wirt" im Münchner Stadtteil Obermenzing. Auf den karierten Tischtüchern stehen "Mut zur Wahrheit"-Wimpel, über der Holzvertäfelung hängen Hirschgeweihe. Die Veranstalter hatten ein Dutzend Unterstützer erwartet, gekommen sind zum Infoabend des AfD-Kreisverbands München-West mehr als 40. Und das, obwohl es ein heißer Sommertag ist, die Grillen zirpen durchs Fenster hinein.
Am Nebentisch sitzt Frau Kraft, eine Rentnerin mit kurzen grauen Haaren. Sie war früher in der SPD aktiv, ist nun AfD-Mitglied, geht zu Pegida-Demos - auch wenn sie dort von Antifa-Aktivisten angebrüllt wird. "Ich bin nicht fremdenfeindlich. Mein Vater war im KZ", sagt sie gleich zu Beginn des Gesprächs mit hitziger Stimme. Aber die SPD ist nicht mehr so, wie sich Frau Kraft das vorstellt. "Die SPD war mal eine Arbeiterpartei. Aber das ist lange her." Vorbei sei es für sie gewesen, als die SPD mit den Grünen koalierte. "Das sind ja Kommunisten mit Uni-Abschluss."
"Wir haben uns etwas erarbeitet. Das darf man uns nicht wegnehmen"
Warum aber ausgerechnet die Rechtspopulisten? "Die AfD ist die neue Partei der Mittelschicht", sagt die Rentnerin entschieden. Dann wird sie laut: "Wir haben uns etwas erarbeitet! Das darf man uns nicht wegnehmen. Nur die AfD hat das erkannt." Dann wendet sie sich ab, mehr will sie nicht erzählen.
Bruni Wildenhein-Lauterbach seufzt laut, wenn sie Aussagen wie diese hört. Die Berliner SPD-Politikerin kandidierte in der roten Hochburg Wedding für das Abgeordnetenhaus, zum dritten Mal schon. In ihrem Kiez bleibt die SPD trotz Verlusten stärkste Kraft, aber Wildenhein-Lauterbachs Konkurrent von der AfD bekommt auf Anhieb 14,3 Prozent der Stimmen, in vielen sozial schwachen Bezirken am Stadtrand sind es noch weit mehr. In ganz Berlin verliert die SPD 24 000 Stimmen an die Alternative für Deutschland, 12 000 wechselten von der Linkspartei zur AfD. So ähnlich war das schon in den Landtagswahlen zuvor. Die Rechtspopulisten sind überproportional bei Arbeitslosen und den klassischen Arbeitern vertreten. Das ist, so analysieren Experten, eigentlich Stammklientel linker und sozialdemokratischer Parteien.
Dass es diese Leute nun zur AfD treibt, beschäftigt auch Wildenhein-Lauterbach. "Davon sind mir im Wahlkampf einige begegnet." Sie kennt das Milieu gut, das Frau Kraft aus München nun in der AfD vertreten sehen will - weil sie ihm selbst entstammt. Ihr Vater, der während der Nazi-Zeit im Widerstand aktiv war, wurde im chaotischen Nachkriegs-Berlin erschlagen, als die Mutter gerade mit Bruni schwanger war.
Wildenhein-Lauterbach weiß, wie es ist, sich etwas zu erarbeiten. Sie machte erst eine Ausbildung zur Verkäuferin, heiratete, bekam Kinder. Dann lernte sie um auf Altenpflegerin, trennte sich von ihrem Mann. Und war über die Zustände in der Pflege so empört, dass sie sich der Gewerkschaft anschloss. Ende der 80er Jahre trat sie der SPD bei. Seit 2006 sitzt die 69-Jährige im Abgeordnetenhaus und wird dort noch fünf weitere Jahre den Wedding vertreten.
Arbeiter und soziale Aufsteiger werden seltener in der SPD
Aufsteiger aus einfachen Verhältnissen, das gibt sie offen zu, sind heute allerdings selten in der SPD. "Ich würde sagen: gefühlt haben 80 Prozent Abitur, die meisten sind Akademiker", sagt sie. Eine Arbeiterpartei im eigentlichen Sinne sei die SPD nicht mehr, das Milieu habe sich verändert. Wildenhein-Lauterbach findet das grundsätzlich nicht schlecht. "Ich hatte damals als Tochter einer Alleinerziehenden gar nicht die Möglichkeit, Abitur zu machen. Es ist doch gut, wenn heutzutage Leute diese Chance haben und ergreifen."
Aber es gibt ja nach wie vor noch jene, die den Aufstieg nicht schaffen, überhaupt keinen Bildungsabschluss haben und erst recht keine Ausbildung. Unter diesen Leuten trifft Bruni Wildenhein-Lauterbach einige, die ihr stolz verkünden, die AfD wählen zu wollen. "Junge Männer, die Hartz IV beziehen", sagt sie. Das ist schon seltsam, weil das Wirtschaftsprogramm der Partei sich deutlich an neoliberalen Prinzipien orientiert. Dafür bestätigt die AfD die Abgehängten in ihrem Sozialneid auf Flüchtlinge, in ihrer Ablehnung des etablierten Systems.
Bruni Wildenhein-Lauterbach trifft auch viele ältere Menschen wie Frau Kraft, die ihr mehr oder weniger deutlich sagen, dass sie mit der AfD sympathisieren. "Die frage ich: Sie wollen doch nur, dass mal jemand für Ordnung sorgt, oder?" Meistens hat sie recht. "Die Leute sind in einer ganz anderen Zeit aufgewachsen", sagt sie. Einer Zeit eben, so hört man es aus den Worten von Frau Kraft, in der ehrliche Maloche mehr wert war als ein Wischiwaschi-Studium. Und als Menschen mit Migrationshintergrund noch "Gastarbeiter" waren.
Bruni Wildenhein-Lauterbach teilt diese Nostalgie nicht. Doch sie weiß auch, woher sie kommt. Viele dieser Menschen seien heute im Alter einsam, die Kinder längst aus dem Haus, die Rente gering. "Den Anschluss an die heutige Zeit finden sie maximal noch über den Fernseher", sagt die SPD-Abgeordnete. Wenn sie den einschalten, sehen sie: Gewalt, Krieg, Chaos, Unsicherheit, Flüchtlinge.