Rechtslage:Breiter Spielraum 

Ist der Ausstand noch verhältnismäßig, oder überziehen die Arbeitnehmervertreter? In Tarifkonflikten ist nicht alles erlaubt - aber vieles.

Von Wolfgang Janisch

Wer in einer Branche arbeitet, in der die Beschäftigten zuletzt gerade mal einen Inflationsausgleich erstritten haben, dem wird an diesem Montag ohne Pendlerzüge vielleicht der Ärger hochgekommen sein. Kann das denn rechtens sein, dass die Eisenbahn- und Verkehrsgesellschaft (EVG) für ein paar Euro mehr die ganze Republik in Mitleidenschaft zieht? Und das, obwohl ein Angebot jenseits der fünf Prozent auf dem Tisch liegt? Musste da wirklich ein Warnstreik her? Und wäre das nicht sogar ein Fall für die Arbeitsgerichte?

Gregor Thüsing winkt ab. Sicher, das habe schon etwas von einer "Geiselnahme der Öffentlichkeit", sagt der Bonner Professor für Arbeitsrecht. "Die Gewerkschaften streiken heute in Situationen, in denen man früher eine Einigung am Verhandlungstisch gefunden hätte." Aber juristisch sei dagegen wohl nichts zu machen; das Bundesarbeitsgericht gebe hier eine sehr gewerkschaftsfreundliche Linie vor.

Zwar müssen die Gewerkschaften in der Tat den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten, zumal dort, wo es um existenzielle Leistungen der Daseinsvorsorge geht. Dies jedoch ist nicht mehr als eine Notbremse für gravierende Streikexzesse. Ansonsten gilt: Dass ein Streik unangenehme Konsequenzen hat, ist ja gerade Sinn der Sache. Das höchste deutsche Arbeitsgericht hat seine Rechtsprechung schon vor 30 Jahren den neuen Formen des Arbeitskampfes angepasst. Noch in den 70er-Jahren war der sogenannte Erzwingungsstreik das Mittel der Wahl: Die Kernbetriebe einer Branche wurden bestreikt, die Arbeitgeber konnten mit der Aussperrung von Beschäftigten zurückschlagen. Aufgabe der Gerichte war es, Waffengleichheit herzustellen - also eine Balance von Streik- und Aussperrungsquote. Solche Materialschlachten wurden aber bald durch flexiblere Formen abgelöst, wie etwa eng begrenzte Streiks in Zulieferbetrieben (Minimax-Strategie), punktuelle "Flexistreiks" in wechselnden Betrieben. Oder eben den Warnstreik, das heute vorherrschende Kampfmittel.

Das Bundesarbeitsgericht fällte vor diesem Hintergrund 1988 ein Grundsatzurteil zum Warnstreik, das bis heute den Ton vorgibt. Dort findet sich zwar der Begriff "Ultima Ratio", der vermuten lässt, ein Streik dürfe immer nur das "letzte Mittel" sein. Nur weicht das Gericht diese Vorgabe im selben Atemzug wieder auf. Wann der Punkt erreicht sei, den Verhandlungstisch zu verlassen und den Ausstand zu empfehlen, darüber könne jedenfalls kein Gericht entscheiden. "In der Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen liegt vielmehr die freie und nicht nachprüfbare Entscheidung einer Tarifvertragspartei, dass sie die Verhandlungsmöglichkeiten ohne begleitende Arbeitskampfmaßnahmen als ausgeschöpft sieht", schrieben die Richter damals. Ob diese Einschätzung zutreffend sei, darauf komme es nicht an.

Professor Thüsing übersetzt das so: "Wenn die Gewerkschaft den Warnstreik für notwendig erachtet, dann ist er notwendig." Zwar ist die Gewerkschaft der Flugsicherung vor gut zwei Jahren tatsächlich einmal zu Schadenersatz verurteilt worden, weil ein Streik der Vorfeldlotsen 2012 den Flugbetrieb in Frankfurt lahmgelegt hatte. Grund dafür war allerdings nicht mangelnde Verhältnismäßigkeit, sondern ein Verstoß gegen die Friedenspflicht. Der Streik betraf auch Teile des Tarifvertrags, die noch nicht gekündigt waren. Eine gewerkschaftliche Panne also, mehr nicht. Ansonsten blieb das Bundesarbeitsgericht seiner Linie treu, etwa im Urteil zur Zulässigkeit von Unterstützerstreiks.

Thüsing fordert schon seit Jahren, der Gesetzgeber müsse Regeln für den Streik formulieren - etwa, um eine rechtzeitige Ankündigung sicherzustellen, damit die Menschen sich darauf einrichten können, so wie jetzt bei der Bahn. Doch das Streikrecht, gleichermaßen scharf beobachtet von Gewerkschaften wie Arbeitgeberverbänden, ist ein heißes Eisen. In all den Jahrzehnten hat noch keine Regierung es auch nur angefasst.

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