Extremismus in DeutschlandDie Ausländerfeindlichkeit wächst, aber nur wenige Deutsche sind rechtsextrem

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Rechte Gruppen mobilisieren im September gegen den Christopher Street Day in Dortmund.
Rechte Gruppen mobilisieren im September gegen den Christopher Street Day in Dortmund. (Foto: Ying Tang/Imago/NurPhoto)

Jeder fünfte Deutsche gilt als ausländerfeindlich, und immer mehr Menschen sind unzufrieden mit dem Zustand der Demokratie. So konstatiert es eine Studie. Geht alles bergab? Nicht ganz.

Von Christoph Koopmann

Jetzt ist wieder Wahlkampf in Deutschland, früher als geplant, und wer bei der vorgezogenen Neuwahl im Februar profitieren könnte, lässt sich erahnen: Die Union führt in den Umfragen, auf Platz zwei folgt schon die AfD. Dräut der Bundesrepublik also ihr blaues Wunder? Und, Anschlussfrage, müsste man sich über ein qua Sonntagsfrage antizipiertes AfD-Rekordergebnis überhaupt wundern, in diesen Zeiten?

Zur Erläuterung holt ein Forscherteam der Universität Leipzig in einer neuen Studie zur Vermessung des Rechtsextremismus in Deutschland erst mal weiter aus. Kein Wunder jedenfalls, heißt es dort, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff „Krisenmodus“ zum Wort des Jahres 2023 kürte, auch 2024 ist nicht ärmer geworden an Krisen: Die Kriege in Nahost und in der Ukraine eskalierten immer weiter; die Bundesregierung stritt mehr, als dass sie regierte, bis sie zuletzt spektakulär gegen die Wand fuhr; es gab die islamistischen Anschläge in Mannheim und Solingen; das Weltklima ächzt; alte Wachstums- und Aufstiegsversprechen gelten nicht mehr, und selbst VW hängt in den Seilen.

Die Gesellschaft sucht zunehmend Zuflucht im Autoritären, warnen die Fachleute

Die Autorinnen und Autoren der „Leipziger Autoritarismusstudie“, wie die zweijährlich vorgenommene Untersuchung heißt, sprechen von einer „Krisengesellschaft“ – die Zuflucht nicht in der Gemeinschaft suche, sondern zunehmend eben im (Rechts-)Autoritären. Nicht „vor dem Schrecklichen“, sondern „beim Schrecklichen“. Vor allem im Westen, sagt Studienleiter Oliver Decker, sei „eine deutliche atmosphärische Verschiebung“ zu bemerken.

Eine zentrale Erkenntnis, die Decker zusammen mit seinen Kollegen Elmar Brähler, Johannes Kiess und Ayline Heller am Mittwoch präsentierte: Die Deutschen werden zunehmend ausländerfeindlich. In Westdeutschland haben 19,3 Prozent der Befragten ein entsprechendes Weltbild, bei der letzten Befragung 2022 waren es noch 12,6 Prozent. In Ostdeutschland sind es gar 31,5 Prozent (2022: 33,1).

Ausländer sind der Studie zufolge auch nicht die einzige Gruppe, die Vorurteile und Hass treffen; Frauen, Sinti und Roma sowie Homosexuelle sind nur einige der vielen weiteren Beispiele. Und nach Jahren des Rückgangs antisemitischer Einstellungen stellen die Forscher diesmal wieder einen leichten Anstieg zumindest in Westdeutschland fest, von drei auf 4,6 Prozent. Im Osten sinkt der Anteil der Antisemiten dagegen von drei auf 1,8 Prozent.

Vorurteile und Hass finden sich nicht nur an den „Rändern“ der Gesellschaft

All solche Vorurteile und solcher Hass, das ist den Leipziger Extremismusforschern wichtig zu betonen, gebe es keineswegs nur an irgendwie definierten „Rändern“ der Gesellschaft. Nein, all das komme aus der „viel beschworenen Mitte“, aus allen Schichten, übrigens auch von Wählern der allermeisten Parteien, nicht nur von denen der AfD, wenngleich da der Anteil hoch ist. Deshalb auch der diesjährige Untertitel der Studie: „Vereint im Ressentiment“.

Diese Ressentiments waren der Studie zufolge schon immer da, vor gut 20 Jahren zum Teil übrigens in noch größerem Maß als heute (2002 galten 26,5 Prozent der Befragten als ausländerfeindlich). Es gibt in der AfD inzwischen aber eine schlagkräftige politische Repräsentation, die dieses Wählerpotenzial ausschöpfen kann – und die Polarisierung munter befeuert.

Und die Partei macht nicht nur Stimmung gegen Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch gegen die demokratische Konkurrenz und die Demokratie insgesamt. Auch deren Image hat, so die Extremismusforscher, gelitten: Der Anteil der Befragten, die unzufrieden sind mit dem aktuellen Zustand der Demokratie, ist gewachsen – nur für knapp 42 Prozent ist die immer noch in Ordnung. Im Westen liegt der Wert knapp darüber (45,5 Prozent), im Osten sogar weit darunter (29,7 – so niedrig wie seit 18 Jahren nicht mehr). Dabei finden mehr als 90 Prozent der Befragten Demokratie als Idee grundsätzlich gut. Das Problem liegt also in der Praxis.

Eine „Bewältigungsstrategie“ für die Folgen des Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte?

Womit man wieder beim oben genannten Krisenmodus als Ursache der allermeisten Übel wäre. Dem fügen die Autoren der Studie für ihr großes Bild noch eine Prise Kapitalismuskritik hinzu: Die „autoritäre Aggression“ unter anderem gegenüber Migranten könne durchaus als „Bewältigungsstrategie“ für die Folgen des Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte verstanden werden. Was genau sie damit meinen, außer einer nicht näher bestimmten Unsicherheit, wird nicht tiefer erläutert.

Aber ohnehin sei zur Erklärung, weshalb wieder mehr Menschen den Ressentiments und der Demokratieverdrossenheit zuneigen, etwas anderes viel wichtiger als tatsächlicher sozialer oder wirtschaftlicher Abstieg der Menschen, des Landes und der Welt: der wahrgenommene Abstieg beziehungsweise die Angst davor, dass es bergab geht. Insgesamt, sagt der Extremismusforscher Decker, zeige sich „eine Neigung zum Abschied von der Realität“.

Zum Schluss bietet die Studie aber vielleicht noch ein kleines bisschen Grund zur Hoffnung: Der Anteil derer, die nach der Definition des Leipziger Teams ein wirklich geschlossen rechtsextremes Weltbild haben – die also nicht „nur“ ausländerfeindlich, sondern auch antisemitisch sind, die sich einen Führerstaat wünschen oder meinen, es gäbe wertvolles und unwertes Leben –, ist inzwischen vergleichsweise gering: 2012 waren es im Bundesschnitt noch knapp neun Prozent, dann sank der Anteil noch weiter. Erst neuerdings ist er wieder leicht angestiegen – auf etwa 4,5 Prozent.

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