Immer mehr Menschen aus dem bürgerlichen und gebildeten Lager zeigen offen eine rechte Gesinnung oder sogar Fremdenfeindlichkeit. Das spiegelt sich nicht nur in den Wahlerfolgen der AfD wider. Besonders deutlich war es bei den Demonstrationen im Osten Deutschland zu sehen, wo extreme Rechte und Neonazis von etlichen bürgerlichen Mitläufern begleitet wurden - die sich selbst dann nicht distanzierten, als etwa der Hitlergruß zu sehen war.
Eine Kluft tut sich auf in Deutschland. Den liberalen Bürgerinnen und Bürgern erscheint die Fremdenfeindlichkeit auf der anderen Seite monströs. Aber dort stehen keine Monster, die endlich ihr wahres Gesicht hinter der bürgerlichen Maske zeigen. Diese Menschen meinen, gute Gründe für ihre Überzeugung zu haben. Sie halten ihre Sorgen für berechtigt und ihre Motive für redlich. Diese "besorgten Bürger" ändern nicht beschämt ihre Meinung, wenn man gegen sie demonstriert, sie als Rechte und Nazis bezeichnet und für gefährlich und dumm erklärt.
Die Mehrheit der Deutschen lehnt Fremdenfeindlichkeit ab - und zeigt das inzwischen deutlich. Das ist die Reaktion auf jene "Wutbürger" und sogar Neonazis, die inzwischen offenbar überzeugt davon sind, für einen sehr großen, aber schweigenden Bevölkerungsteil zu sprechen. Hierin liegt die eigentliche Bedeutung der Demonstrationen "#wirsindmehr" und wir sind #unteilbar:
Die deutsche Gesellschaft steht weiterhin mehrheitlich für Toleranz und Vielfalt. Tatsächlich ist der Anteil derjenigen, die aufgrund von Umfragen als fremdenfeindlich, antisemitisch, ausländer- oder muslimfeindlich eingeschätzt werden, in den vergangenen Jahren nicht gewachsen. Er war und ist relativ groß.
Was sich aber verändert hat: Immer mehr Menschen werten Asylbewerber ab und sagen, sie würden sich wegen der Muslime als Fremde im eigenen Land fühlen. Und dieser Teil der Bevölkerung wird lauter und aggressiver.
Wie soll die Gesellschaft damit umgehen? Haltung gegen rechts zu zeigen, ist wichtig, "vermutlich aber ist 'Auseinandersetzung' das produktivere Rezept", schreibt Zeit-Redakteur Ijoma Mangold. Auseinandersetzen bedeutet aber nicht nur, mit Rechten zu reden. Es bedeutet vor allem, sich auseinanderzusetzen mit den Ursachen der rechten, fremdenfeindlichen Einstellungen. Das bedeutet nicht, sie zu relativieren oder gar zu rechtfertigen. Es geht darum zu verstehen, womit man es zu tun hat.
Viele Intellektuelle haben sich jedoch aus diesem Diskurs verabschiedet, weil sie nicht bereit sind, den eigentlichen Gegenstand, um den es geht, zu betrachten: den Menschen und seine Natur.
Ihren Ursprung findet die gegenwärtige Entwicklung in zwei archaischen menschlichen Neigungen: Fremden zu misstrauen und dem Bedürfnis, sich in Gruppen zusammenzuschließen.
Woher Misstrauen und Angst kommen
- "Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen." (Thomas Hobbes, englischer Philosoph. Ursprünglich: "Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, nicht Mensch, solange er nicht weiß, wie der andere ist." Plautus, antiker römischer Dichter)
- "Ich gegen meinen Bruder. Mein Bruder und ich gegen die Familie. Meine Familie und ich gegen den Clan. Mein Clan und ich gegen mein Land. Mein Land und ich gegen die Welt." (somalisches Sprichwort)
- "Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier." (Methusalix in "Asterix"-Band 21)
Mit diesen Zitaten lässt sich zusammenfassen, was Sozialwissenschaftler, vor allem aber auch Verhaltens- und Soziobiologen seit Jahrzehnten belegen: Der Umgang der Menschen miteinander ist geprägt von Neugier, Aufgeschlossenheit, Kooperation und sogar Zuneigung. Aber er wird auch bestimmt von Vorsicht, Ablehnung, Angst und Abwehrbereitschaft.
Das sitzt uns tief in den Knochen. Denn unter unseren Vorfahren haben diejenigen häufiger überlebt, die eher einmal zu oft als einmal zu wenig vorsichtig waren. Misstrauen gegenüber Fremden ist eine evolutionäre Anpassung. Und es ist allgegenwärtig. Weltweit haben Menschen deshalb zum Beispiel Rituale entwickelt, die es Fremden leichter machen, Kontakt aufzunehmen.
Dazu dienen etwa simple Begrüßungen, sich die Hand zu geben, sich zu verbeugen oder in manchen Kulturen sogar, sich mit den Nasen zu berühren. Wir signalisieren so, dass wir die Anwesenheit der anderen akzeptieren und selbst friedliche Absichten haben. Höfliche Umgangsformen haben ihren Sinn. (Natürlich gibt es Begrüßungsrituale auch zwischen Vertrauten, um das Zusammengehörigkeitsgefühl aufrechtzuerhalten oder zu intensivieren.)
Weil "fremd" eine mögliche Bedrohung anzeigen kann, greift unsere Wahrnehmung für eine erste schnelle Einschätzung auf einen Trick zurück: Je mehr ein Mensch uns ähnelt, desto eher haben wir das Gefühl, zu wissen, womit wir es zu tun haben. Eine vertraut wirkende Erscheinung wirkt berechenbar. Je weniger uns dagegen jemand ähnelt - je fremder er uns ist -, desto unsicherer sind wir. Heikel ist, dass die Einordnung nicht nur bewusst, sondern schneller unbewusst abläuft. Sie kann dementsprechend irrational sein. Das gilt etwa für die Reaktion auf die Hautfarbe oder das Geschlecht. So zeigen auch viele Menschen, die keine Rassisten sind, unbewusst eine Tendenz zu negativeren Assoziationen gegenüber Personen mit anderer Hautfarbe. Psychologen sprechen hier vom " implicite bias".
Gruppenbildung und Entmenschlichung
Menschen organisieren sich gemeinhin in Gruppen, deren Mitglieder dieselben Interessen verfolgen und die sich darin gegenseitig bestätigen. Die Gruppenidentität vermittelt ein Gefühl von Sicherheit und stärkt das eigene Selbstbewusstsein. Ein Effekt dieser Gruppenbildung, vor dem Sozialwissenschaftler schon lange warnen, ist aber: Menschen neigen dazu, der eigenen Gruppe gegenüber positive Vorurteile zu entwickeln, andere Gruppen dagegen mit negativen Stereotypen abzuwerten. Das wird besonders heikel, wenn Gruppen unterschiedliche wirtschaftliche, politische und religiöse Interessen verfolgen und in Konkurrenz zueinander geraten.
Flüchtlinge in Deutschland:Vom Vorurteil zur Fremdenfeindlichkeit
Wo Heime für Asylbewerber eingerichtet werden sollen, reagieren Menschen häufig ablehnend. Sehr viele Deutsche hegen Vorurteile gegen Flüchtlinge - obwohl sie wenig von ihnen wissen. Oder gerade deswegen? Fragen an dem Gewaltforscher Andreas Zick.
Je bedeutender man die eigenen Gruppen und ihre Interessen findet, desto größer werden Abneigung und Abgrenzung anderen gegenüber. Die extremen Formen bezeichnen Sozialwissenschaftler als "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit", im schlimmsten Fall kann es zu einer "Dehumanisierung" (Entmenschlichung) der Mitglieder anderer Gruppen kommen. Verhaltensbiologen sprechen von "kultureller Pseudospeziation" (die Aufspaltung der Art in "Scheinarten"). Selbst das Gebot "Du sollst nicht töten" gilt im Zwischengruppenkonflikt umso weniger, je weniger die "anderen" als gleichwertige Menschen betrachten werden. (Es kommt nicht von ungefähr, dass Kriegspropaganda darauf setzt, Gegner zu entmenschlichen.)
Nicht verdammt, aber verdammt anfällig
Natürlich verdammen weder das latent vorhandene Misstrauen gegenüber Fremden noch die Gruppeneffekte die Menschen dazu, alle abzulehnen, die nicht so sind wie sie. Die Begegnung mit Fremden und ihre Aufnahme in die Gesellschaft ist häufig eine Bereicherung. Allerdings wird das eher so wahrgenommen, wenn Menschen positive Erfahrungen gemacht haben. Es sind Lernprozesse notwendig. Deshalb hat sich die Gesellschaft in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nur langsam und gegen viele Widerstände in ihre gegenwärtige moderne, offene Form verwandelt, in der die Grundwerte der Verfassung nicht nur auf dem Papier stehen, sondern immer mehr unseren Alltag prägen.
Die menschliche Neigung zum Misstrauen anderen gegenüber ist damit aber nicht aus der Welt. Besondere Umstände können die archaische Angst vor Menschen, die irgendwie anders sind, wieder wecken. Und sie lässt sich schüren. Genau das ist es, was wir zurzeit beobachten.
Konfliktforscher weisen schon seit Jahren auf Entwicklungen hin, mit denen die zunehmende Ablehnung von Fremden als mögliche Bedrohung zusammenhängt: Obwohl die wirtschaftliche Lage insgesamt eher gut ist, befürchten manche, ihre Lebensumstände könnten sich aufgrund des rapiden wirtschaftlichen Wandels (Stichwort Globalisierung) und angekündigter massiver Veränderungen (Stichwort Digitalisierung) verschlechtern, ohne dass sie eine Chance sehen, darauf Einfluss zu nehmen. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit verunsichert viele - nicht nur rechts der Mitte.
Seit einigen Jahren wächst aber die Bedeutung eines weiteren Faktors: die relativ große Zahl insbesondere muslimischer Flüchtlinge, die nach Deutschland gekommen sind. Auch hier kommt es zu Problemen durch die menschliche Wahrnehmung. Was ungewöhnlich ist, bekommt eine besondere Bedeutung - und wird leicht falsch eingeschätzt. Das gilt für die Zahl der Einwanderer und ganz eindeutig ist es so in Bezug auf Muslime.
Vier bis fünf Millionen Menschen muslimischen Glaubens leben in Deutschland. 2014 schätzten die Deutschen ihre Zahl auf 19 Millionen - drei bis vier Mal so viele. Vermutlich deshalb kommt zu der schon lange existierenden Wahrnehmung einer "Überfremdung" durch Ausländer bei vielen Deutschen inzwischen das Gefühl, wegen der Muslime ein "Fremder im eigenen Land" zu sein. Das ist ein Problem, das man nicht unterschätzen darf.
Angst um die Heimat und vor der multikulturellen Gesellschaft
Menschen fühlen sich am sichersten und wohlsten, wenn sie Sitten, Überzeugungen und Glauben mit ihren Mitmenschen teilen. "So haben wir es schon immer gemacht", ist weniger irrational, als viele meinen, wenn es weiter heißt: "Und so hat es bisher auch gut funktioniert." Das bedeutet nicht, dass Veränderungen konsequent abgelehnt werden. Viele sorgen sich aber nun, dass sich Heimat und Gesellschaft insgesamt zu stark und zu schnell verändern.
Es ist deshalb keine Überraschung, dass eine knappe Mehrheit in Deutschland - insbesondere sind es die Älteren - von Zugewanderten eine kulturelle Anpassung erwartet, wie der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Was jenes Drittel der Befragten, die für ein Zusammenwachsen der Kulturen sind, sich darunter genau vorstellt, und wie schnell es stattfinden kann oder soll, ist unklar. Nur zehn Prozent sind tatsächlich dafür, dass verschiedene Kulturen eigenständig nebeneinander existieren können.
Manche Bürgerinnen und Bürger empfinden deshalb die Forderung nach einer multikulturellen Gesellschaft als Bedrohung. Sie wollen sich die damit einhergehenden schnellen Veränderungen nicht aufzwingen lassen. Darüber hinaus haben sie auch den Eindruck, die gegenwärtige, bereits vielfältige Kultur in Deutschland, "ihre" Kultur, würde schlecht gemacht. Wer die eigene Kultur klar - etwa als Leitkultur - präferiert, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, nationalistisch oder gewissermaßen kulturrassistisch zu sein.
Auftritt der Populisten
Ein weiterer wichtiger Grund für die derzeitige Entwicklung ist, dass die Betroffenen sich durch rechte Populisten bestätigt sehen, die versprechen, ihnen die Kontrolle zurückzugeben.
Darüber hinaus ergänzen sie ihre Motive oder etikettieren sie um: Demnach ist es nicht mehr nur die Angst um die eigenen Lebensumstände, die sie bewegt. Den Rechten zufolge geht es vielmehr darum, selbstlos für vorgeblich große, ehrenvolle Ziele zu kämpfen: den Schutz des (fiktiven) Volkes, der (fiktiven) Nation, des (fiktiven) christlichen Abendlandes. Aus ihrer persönlichen Schwäche heraus entwickeln sie so ein Gefühl von Bedeutung und Stärke. Vor diesem Hintergrund stößt das reaktionär-autoritäre Auftreten der Rechten viele nicht mehr ab, sondern wird sogar attraktiv.
Dass die "rohe Bürgerlichkeit", wie der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer es nennt, dabei falsche Behauptungen akzeptiert und sogar Verschwörungstheorien übernimmt, hängt mit einem Phänomen zusammen, das die Kognitionsforschung als Halo- oder Heiligenschein-Effekt bezeichnet: Menschen akzeptieren bereitwillig, was sie in ihrer eigenen Überzeugung bestätigt, während sie ablehnen, was sie widerlegt - auch wenn die Fakten gegen sie sprechen. Willkommen in den Filterblasen und Echokammern des Internets.
Wachsender Autoritarismus:"Kein Mensch kann auf Dauer ohne Anerkennung leben"
Kommt das autoritäre Zeitalter? Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer erklärt, warum er sich große Sorgen um die liberale Demokratie macht.
Die Identifizierung mit den Rechten und die Übernahme ihrer ideologischen Konstrukte gehen wieder mit der Abgrenzung und Herabwürdigung von Gruppen einher, die "anders" sind. Das sind nun nicht mehr nur "die Fremden", sondern auch die Linksliberalen, die "Multikulti-Spinner", die "Lügenpresse", die Politikerinnen und Politiker in Berlin, die die Warnungen nicht ernst nehmen und Teile der Gesellschaft im Stich lassen. Und da diese Gruppen blind zu sein scheinen für alle Gefahren durch die "Fremden" und den bedrohlichen Entwicklungen sogar noch Vorschub leisten, werden sie selbst als eine zusätzliche Bedrohung wahrgenommen.
Solche gruppendynamischen Effekte sind nicht nur auf der Seite der Rechten zu sehen. Sie sind auch in weltoffenen Teilen der Zivilgesellschaft zu beobachten und vertiefen von hier aus die Kluft. Denn auch das "Wir" in #wirsindmehr wirkt als Werkzeug der Identifikation und Abgrenzung. Auch hier gibt es Extrempositionen. So werden häufig Islamkritik und Hinweise auf Probleme der Zuwanderung einer Vielzahl junger, alleinstehender Männer als Islamophobie und Rassismus diffamiert.
Wer beim geringsten Verdacht auf Rassismus die schwersten Geschütze auffährt, signalisiert auf diese Weise zwar in die eigene Gruppe hinein, selbst über jeden Zweifel an der eigenen antirassistischen Gesinnung erhaben zu sein. Eine vernünftige Auseinandersetzung ist so allerdings nicht mehr möglich.
Das trifft genauso zu, wenn man alle jene lächerlich macht, die sagen: "Ich bin kein Rassist, aber ...". Dabei übersieht man, dass diese Menschen immerhin nicht als Rassisten gelten möchten und den Vorwurf beschämend finden. Wer das nicht ernst nimmt, zeigt nur noch Haltung, und unterläuft jede Auseinandersetzung.
Alle sind gefordert, den Graben in der Gesellschaft zuzuschütten
In der gespaltenen deutschen Gesellschaft steht man sich derzeit weitgehend verständnislos, teils voller Verachtung und sogar hasserfüllt gegenüber. Es besteht die Gefahr, dass das Gefühl der gegenseitigen Bedrohung wächst, und damit auch die Bereitschaft, sich mit Gewalt zu wehren. Um den inneren Frieden zu bewahren, stehen alle in der Verantwortung, miteinander vernünftig umzugehen. Es genügt nicht, die Motive der anderen Seite nur zu verurteilen. Das gilt für die Rechten, aber auch die Linken, Liberalen, Kosmopoliten. Und auch für die Migranten selbst.
Es wird auch schon vieles unternommen, um den Graben zuzuschütten. An runden Tischen, auf Bürgerversammlungen oder bei Aktionen mancher Medien können die verschiedenen Seiten sich als Mitmenschen mit Sorgen und Nöten erleben und miteinander reden. Auch die vielleicht irrationalen Ängste der Menschen ernst zu nehmen, ist extrem wichtig - das zeigt die Erfahrung der lokalen Politik: Die Akzeptanz von Flüchtlingsunterkünften ist dort am größten, wo die Bürgerinnen und Bürger nicht das Gefühl hatten, es würde über ihre Köpfe hinweg entschieden.
Kontraproduktiv ist es dagegen, wenn auf Landes- oder Bundesebene Politiker versuchen, Anhänger der rechten Populisten zurückzugewinnen, indem sie energische Maßnahmen gegen das "Flüchtlingsproblem" ankündigen. Damit bestätigen sie die Betroffenen in ihrer Überzeugung, dass etwas furchtbar schiefläuft. Da sie das Vertrauen in die großen Parteien verloren haben, wählen sie lieber diejenigen, die ihre Sorgen schon länger wirklich ernst zu nehmen scheinen: die Rechten.
Hilfreich wäre dagegen, klarzustellen, dass die gegenwärtigen Probleme in der Gesellschaft kaum Folgen der Migration sind, sondern der Globalisierung und des Neoliberalismus, die stärker kontrolliert werden müssten.