Lothar König hatte eine Narbe über dem rechten Auge. Ein Schlagring zertrümmerte ihm fast den Schädel, damals in den Neunzigern. Sie hatten eine Skulptur aus Schrott aufgebaut vor der „Jungen Gemeinde“ in Jena, diesem „weltbedeutenden Kacknest“, wie der Pfarrer seine Wirkstätte einmal nannte. Das Kunstwerk sollte die Seele der Jugend einfangen: rostig, sperrig, nicht kaputt, nur anders. Anderssein reichte, um aufs Maul zu bekommen, von Neonazis und anderen Wutbürgern. Lothar König hatte mehr Glück als andere, er behielt sein Auge und die Zuversicht.
1954 in Leimbach, Thüringen, geboren, fiel er früh durch Ungehorsam auf. Als Viertklässler übermalte König ein Bild des DDR-Staatschefs Walter Ulbricht. Als Fünfzehnjähriger pinselte er „21. August ’68 Dubcek“ an eine Hauswand, um sich mit dem Initiator des Prager Frühlings zu solidarisieren. Er wurde nicht zum Abitur zugelassen, musste zuschauen, wie Volkspolizisten und Stasimänner den Bauernhof seiner Eltern durchsuchten. Für den autoritären Staat ein „feindlich-negatives Element“, wandte er sich der Kirche zu, die in der DDR tatsächlich Zuflucht war, für die Verfolgten und Unbequemen, die sich nicht damit abfinden konnten, in einem abgeriegelten Land zu leben.
Er sah nicht nur zu wie der Verfassungsschutz. Er fuhr im „Lauti“ hinterher
König ließ sich zum evangelischen Diakon ausbilden, studierte Theologie, organisierte Montagsdemos. Wie sehr muss es ihn angekotzt haben, dass jemand wie Thüringens AfD-Chef Björn Höcke sich Jahrzehnte später als Erbe der friedlichen Revolution aufspielte, die Idee aushöhlte und verdrehte bis nur noch eines übrig blieb: Systemsturz.
Als die DDR kollabierte, kam König nach Jena, wurde Stadtjugendpfarrer, schuf einen Ort für die „Langhaarigen“ und bekämpfte die Kurzhaarigen, die in Springerstiefeln durch die Straßen des wieder vereinten Deutschlands zogen. Er sah die Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe zu Terroristen heranwachsen. Aber anders als Polizei und Verfassungsschutz sah er nicht zu, sondern fuhr im „Lauti“ hinterher, einem umgebauten VW-Bus, der für den Soundtrack auf Demonstrationen sorgte: „Keine Macht für Niemand“.
2013 brachte die Dresdner Staatsanwaltschaft ihn wegen dieses Klassikers der Band Ton Steine Scherben vor Gericht. Bei einer Demo zum Jahrestag der Bombardierung habe er zur Gewalt gegen Polizisten aufgewiegelt, angeblich ein „schwerer Fall von Landfriedensbruch“. Am Ende des bundesweit beachteten Prozesses stand ein Bußgeld von 3000 Euro und die Frage, wen der Staat als Bedrohung sieht und wen nicht.
Nicht tiefer fallen als in Gottes Hand? König bevorzugte Stagediving
„Musik mit aggressiven, anheizenden Rhythmen“ blieb Königs Ding. Er liebte die Stones, The Who und Feine Sahne Fischfilet. Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand? Dieser Pfarrer zog es vor, in die Hände junger Menschen zu fallen, beim Stagediving im Gemeindehaus. Wo er war, war Rauch. Sei es der Dunst von Bengalos oder die selbst gedrehten Kippen. Auch in ihm war Glut, er schürte sie, konnte aufbrausend sein, einnehmend, im Gespräch, auf der Kanzel. Seine letzte Predigt war ein Appell an das Miteinander: „Es begegnet ein Mensch einem anderen Menschen. Da wird nicht gefragt, ob er Punk ist oder verlottert aussieht. Da gehen wir zusammen ein Stück Weg, und ich sage euch: Ihr kriegt Sachen hin, die schier unglaublich sind.“
Lothar König wurde 70 Jahre alt. Sein Sohn Tilmann hat ihm mit einem Dokumentarfilm ein Denkmal gesetzt. „König hört auf“ ist das Porträt eines Mannes, der nicht gut loslassen kann, seinen Beruf nicht und schon gar nicht das Leben. In einer Szene packt König nach einem Konzert seinen Rucksack zusammen. Manchmal sei es ihm fast zu viel, was da an Emotionen rüberkomme, sagt er. „Ich wünschte, ich könnte es ein bisschen mehr verteilen, sammeln, aufbewahren, falls es mal kälter wird.“ Jetzt ist wieder Herbst in Deutschland, aber keine Sorge: Lothar König hat Vorräte angelegt, und sie reichen für alle.