Süddeutsche Zeitung

Verfassungsschutzpräsident:Rechte Szene vermischt sich immer stärker mit dem Bürgertum

  • Der Verfassungsschutz sieht eine wachsende Bedrohung durch Rechtsextremismus in Deutschland.
  • Problematisch sei, dass sich die rechte Szene nicht mehr scharf vom Bürgertum unterscheiden lasse, sagt Präsident Thomas Haldenwang.
  • Zudem beobachten die Geheimdienste, dass der Rechtsextremismus insbesondere im virtuellen Raum zunehme, was die Überwachung erschwere.

Von Benjamin Emonts, Berlin

Die Bedrohung durch Rechtsextremisten in Deutschland ist nach Einschätzung der deutschen Geheimdienste deutlich gewachsen. Die rechte Szene sei heterogener und unübersichtlicher geworden, warnte der Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang am Dienstag bei einer öffentlichen Anhörung im Bundestag. "Die sprichwörtliche rechte Ecke, mit der sich trennscharf Extremisten vom bürgerlichen Lager unterscheiden lassen, gibt es nicht mehr", sagte Haldenwang. Die rechtsextreme Szene vermischt sich nach Einschätzung des Bundesverfassungsschutzes immer stärker mit den rechten Rändern des Bürgertums.

Diese Entwicklung erschwert die Arbeit für die drei deutschen Geheimdienste: Bundesnachrichtendienst (BND), Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD). Haldenwang sprach bei der öffentlichen Anhörung vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags von einer zunehmenden "Radikalisierung, Virtualisierung und Entgrenzung" der rechten Szene. Für die praktische Arbeit der Behörden bedeute dies, dass die Rechtsextremen und ihre Netzwerke immer schwerer greifbar würden, zumal sie sich vermehrt im Internet kennenlernten, vernetzten und sich gegenseitig radikalisierten. Die bekannten rechtsradikalen Strukturen wie Parteien oder Bürgerwehren seien zwar weiter vorhanden, doch "daneben gibt es die gefährliche Entwicklung des virtuellen Rechtsextremismus im Internet", betonte Haldenwang. Die sogenannte "neue Rechte" werde bereits im "politischen Vorfeld aktiv, um rechtes Gedankengut auf viele Füße zu stellen." Haldenwang nannte vor diesem Hintergrund explizit die Identitäre Bewegung, den Flügel der AfD und die Junge Alternative.

In Hinblick auf das jüngste rechtsextremistische Attentat in Halle wies Haldenwang auf die große Gefahr hin, die von radikalisierten Einzeltätern ausgehe. Der Angreifer von Halle habe seinen Plan nach bisherigen Erkenntnissen mit niemandem geteilt. Ebenso wie die Attentäter in Oslo, Christchurch oder El Paso wollte er laut Haldenwang "ein Fanal" setzen vor einem globalen Millionenpublikum. Aus dieser Motivation heraus hätten die Täter ihre Anschläge teilweise live gestreamt. "Es ist ein missionarischer Tätertyp am Werk, der von seinen Vorgängern inspiriert wird und seine eigene Tat als Initialzündung für künftige Nachahmer versteht", sagte der Verfassungsschutzpräsident.

Auf die Frage des Grünen-Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz, ob es rechtsextremistische Netzwerke in der Bundeswehr gebe, antwortete der Präsident des Militärischen Abschirmdiensts Christof Gramm mit einem: "Jein." Eine entschlossene Gruppe oder "Schattenarmee", wir er sagt, gebe es nach seinen Erkenntnissen zwar nicht. Unterhalb dieser Schwelle seien aber durchaus Vernetzungen festzustellen, "die verfassungsfeindliche Tendenzen aufweisen". In Einzelfällen seien zudem Verbindungen von Militärmitarbeitern zu rechtsextremen Strukturen innerhalb der Gesellschaft festgestellt worden. Die Zahl der rechtsextremen Verdachtsfälle in der Bundeswehr steige, sagte Gramm. Derzeit seien es 500. Allein etwa 20 davon seien im Kommando Spezialkräfte (KSK) angesiedelt. Die Spezialeinheit habe sich zum "Arbeitsschwerpunkt" der Behörde entwickelt. Generell finde das Thema Rechtsextremismus im BAMAD eine größere Beachtung. Gramm sprach von einem "Mentalitätswechsel" in seiner Behörde.

Alle drei Geheimdienst-Chefs vermittelten den Eindruck, dass ihnen das Thema Rechtsextremismus sehr ernst ist. Der Chef des Auslandsnachrichtendiensts BND, Bruno Kahl, der weniger als seine Kollegen mit der Problematik zu tun hat, wies daraufhin, einen Beauftragten für rechtsextremistische Bedrohungen einberufen zu haben. Der Bundesverfassungsschutz zählt deutschlandweit derzeit 12 700 Menschen zur gewaltbereiten rechtsradikalen Szene. Die Polizei stuft aktuell 43 Rechtsextremisten als sogenannte Gefährder ein, denen ein Anschlag zuzutrauen ist.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4661398
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/bix
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.