Rechtsextreme: Rekord der Straftaten:"Sie sind sehr selbstsicher"

Lesezeit: 6 min

Rechtsextremismus und Gewalt: Experte Andreas Speit über radikale Ansichten im Mittelstand, die Vorteile eines NPD-Verbots und Antisemitismus in der Finanzkrise.

Matthias Kolb

Andreas Speit ist Sozialökonom und arbeitet als Journalist zum Thema Rechtsextremismus. Gemeinsam mit Andrea Röpke hat er 2008 das Buch "Neonazis in Nadelstreifen" (Christoph Links Verlag) herausgegeben.

Immer selbstbewusster, immer brutaler: Neonazis, hier im Sommer 2008 in Jena (Foto: Foto: AP)

sueddeutsche.de: Herr Speit, laut Bundesinnenministerium hat es 2008 in Deutschland fast 14.000 rechtsextreme Straftaten gegeben. 773 Menschen wurden verletzt. Überrascht Sie dieser traurige Rekord?

Andreas Speit: Die neuen Zahlen sind leider keine Überraschung. Die rechtsextreme Szene ist in den letzten Jahren selbstbewusster und militanter geworden. Gerade ein Teil der freien Kameradschaften diskutiert, ob man anstatt zu "bitten und betteln" nicht eher die politische Auseinandersetzung auf die Straße tragen solle. Das sehen Teile der NPD mit einer gewissen Sorge - man fürchtet, dass diese radikaleren Gruppen wie die "Autonomen Nationalisten" ihnen das Image kaputt machen können. Bei den Kameradschaften gibt es keine offiziellen Vorsitzenden und keine Statute. Vor allem sind sie dynamischer und ziehen so Jugendliche stärker an.

sueddeutsche.de: Steigen die Zahlen, weil Polizei und Bürger genauer hinschauen?

Speit: Man muss von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Immer wieder berichten Mitarbeiter der Opferberatungsstellen, dass Vorfälle mit Jugendlichen als "Kindereien" abgetan werden und der politische Kontext ausgeblendet wird. Dieses Verhalten der Behörden ist in ganz Deutschland gleich. Im Osten fällt auf, dass die Gewalttaten oft brutaler sind. Die Auseinandersetzungen gegen diese Form der Gewalt ist mehrschichtig und langfristig.

In Sachsen-Anhalt bemüht sich die Landesregierung beispielsweise mit verschiedensten Maßnahmen, dieser Gewalt entgegen zu treten, ein zivilgesellschafliches Klima weiter zu fördern und auch Behörden und Polizei für diese Straftaten zu sensibilisieren. Dennoch führt das Bundesland die Gewaltstatistik an, machen Fehler von Polizisten die Ermittlungen schwerer. 2008 wurden dort sogar zwei Menschen von Neonazis umgebracht.

sueddeutsche.de: Im brandenburgischen Templin wurde ein 55-jähriger Mann tot aufgefunden. Zwei Verdächtige aus der rechten Szene stehen vor Gericht - dieser Fall taucht noch nicht in der Statistik auf. Wie belastbar sind die Zahlen?

Speit: Es ist leider so, dass die Zahlen rückblickend regelmäßig nach oben korrigiert werden müssen. Das geschieht mitunter auf Druck der Presse oder der Opferhilfen. Sie belegen durch Recherchen, dass manche Vorgänge als rechtsextreme Straftat gezählt werden und nicht als Schlägerei unter betrunkenen Jugendlichen abgetan werden.

sueddeutsche.de: Es fällt auf, dass es in Ostdeutschland bezogen auf die Einwohnerzahl die meisten Straftaten gibt. Welche Erklärung gibt es dafür?

Speit: Die meisten rechten Straftaten sind ja keine geplanten Taten, sondern entstehen meist spontan. Da treffen beispielsweise Nazis nach einem Discobesuch auf eine Gruppe vermeintlich alternativer Jugendlicher, und dann eskaliert die Situation. In den Subkulturen der rechten Szene, die im Osten überall anzutreffen ist, herrscht eine hohe Gewaltbereitschaft. Gleichzeitig klagen Beratungsstellen über eine gewisse Sättigung der Öffentlichkeit - nur wenn die Taten äußerst brutal sind oder das Opfer prominent ist, werde noch berichtet.

sueddeutsche.de: Die Zahlen für die Flächenstaaten Bayern, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sind ebenfalls besorgniserregend hoch.

Speit: Ja, aber der Ost-West-Vergleich lenkt davon ab, dass Gewalt vor allem im ländlichen Bereich sehr verbreitet ist. Schleswig-Holstein steht bundesweit sehr weit oben, was aber kaum bekannt ist. Auf den Dörfern gibt es da eine Szene, die sich zwischen freien Kameradschaften und Rechtsrock bewegt. Da finden immer wieder entsprechende Gewalttaten statt, die unter Jugendlichen bekannt sind, aber eine allgemeine Öffentlichkeit selten erreichen. Vielleicht auch, weil Journalisten bei der Polizei nicht so nachhaken.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, inwieweit das Schlägerimage der NPD bei den kommenden Wahlen schaden könnte.

sueddeutsche.de: Vor kurzem sorgte der Aufmarsch der rechten Szene in Dresden für Aufsehen - danach verprügelten Nazis Gewerkschafter an einer Raststätte in Thüringen. War das auch eine spontane Tat?

Speit: Die Ermittlungen laufen noch. Doch neu ist das Geschehen nicht. Vor und nach Nazi-Aufmärschen hat es in den letzten Jahren schlimme gewalttätige Übergriffe gegeben. Auf dem Weg zu einer Demo in Rostock haben Neonazis Jugendliche in einem Zug angegriffen und zusammengeschlagen. Ähnliches geschah in Lübeck und Göttingen. In der Diskussion gehen diese Vorfälle unter - bisher werden die Aufmärsche von den Gerichten genehmigt, weil sie friedlich ablaufen. Das stimmt für den Demonstrationszug in der Stadt, aber vorher und nachher ...

sueddeutsche.de: Haben manche Rechte einfach keine Angst mehr vor dem Gesetz?

Speit: Mehrere Angriffe von Naziveranstaltungen habe ich miterlebt. Am 1. Mai 2008 griffen in Hamburg Aufmarschteilnehmer Polizei, Journalisten und Gegendemonstranten an. Eine Enthemmung, auch ganz konkret beim Zuschlagen, ist festzustellen. Da wird nicht einfach mal schnell geschubst, hier scheint es egal zu sein, wenn der Angegriffene vielleicht schwer verletzt wird. Die Szene ist in dieser Frage wirklich sehr selbstsicher. Sie denken, im Schutz der Gruppe könne ihnen nichts passieren. Leider gibt es genug Verfahren mit milden Urteilen. Viele Verfahren enden auch enttäuschend für die Opfer. Mit ein Grund, warum oft keine Anzeigen gestellt werden.

sueddeutsche.de: Die NPD will im Superwahljahr 2009 im sächsischen Landtag bleiben und in Thüringen ins Parlament einziehen. Bedroht das Gewalt-Image den möglichen Erfolg?

Speit: Die NPD-Anhänger, ihre Wähler, werden von negativen Berichten über die Partei nicht dazu verleitet, sie nicht mehr zu wählen. Die Wahlentscheidung verläuft aus anderen Motiven. Mir ist nur ein entsprechender Fall bekannt: 2004 verlor die NPD in Schleswig-Holstein an Stimmen, nachdem Führungskader der Partei auf Gegendemonstranten eindroschen. In Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen ist eher zu befürchten, dass das die Wähler nicht beeindruckt - Umfragen sehen die Partei bei vier bis sechs Prozent. Aus der NPD heißt es, man resozialisiere Menschen, wenn sie vorbestrafte Männer auf die Listen setzen. Das sagt sowohl Parteichef Udo Voigt als auch sein parteiinterner Rivale Andreas Molau.

sueddeutsche.de: Zuletzt versuchte die NPD, sich durch soziale Hilfen wie "Hartz-IV-Sprechstunden" zu profilieren.

Speit: Die Partei bemüht sich, soziale Themen zu besetzen und sich in den Kommunen zu verankern. Nach außen heißt es, unter der Fahne der NPD dürften keine Gewalttaten verübt werden. Das ist ein gewisser Spagat, denn die Führungsgruppe weiß, dass sie die Kameradschaften und deren Mitglieder braucht, um etwa Wahlkämpfe zu organisieren.

sueddeutsche.de: Haben all die Aufklärungsprogramme der letzten Jahre nicht gefruchtet?

Speit: Die Projekte müssen langfristig und nachhaltig angelegt werden - auch finanziell. Doch oft müssen sich die Projekte von Antrag zu Antrag retten, das kann lähmen, lenkt von der Arbeit ab. Denn vor Ort muss eine alltägliche Gegenkultur entworfen, gelebt werden. Mit spontanen Maßnahmen und zwei Konzerten kann man da wenig bewegen. Gerade im ländlichen Raum in Ostdeutschland, wo es kaum andere Jugendkultur als die rechte Szene gibt, muss eine Gegenkultur weiter entwickelt werden - auch wenn diese Jugendlichen machem Bürger nicht so sehr gefallen - zu laut, zu bunt sind. Wenn es keine Zivilgesellschaft gibt, werden die Rechten weiter bestärkt.

Lesen Sie auf der letzten Seite, was Andreas Speit von einem möglichen NPD-Verbot hält und wie die Finanzkrise den Antisemitismus befeuern könnte.

sueddeutsche.de: Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer kritisierte jüngst, dass sich diese Programme an Junge richten würden. Dabei seien es oft "ältere Bürger, die dem Fremdenhass den Sauerstoff gäben, ohne den er üblicherweise ersticke". Hat er Recht?

Speit: Absolut, es darf nicht sein, dass sich die Rechten als Vertreter der schweigenden Mehrheit fühlen. Längst wird auch überlegt, wie man in der Bildungsarbeit die erreichen kann, die selten zu Vortagsabenden oder Seminaren kommen. In Mecklenburg-Vorpommern gehören beispielsweise zehn Prozent der NPD-Wähler dem Mittelstand an: Das ist der Apotheker, der kleine Elektriker oder der große Bauunternehmer. Auch in Niedersachsen standen viele Handwerker auf der Landesliste - Leute aus dem "Herz der Gesellschaft", von dem die konservativen Parteien sprechen. Das sind nicht nur desorientierte Jugendliche.

sueddeutsche.de: Nach der Attacke auf den Passauer Polizeichef Alois Mannichl plädierten viele Politiker für ein erneutes NPD-Verbot...

Speit: ... die Debatte hat für mich einen bitteren Beigeschmack. In Sachsen-Anhalt sind zwei Menschen von Neonazis getötet worden, da laufen die Gerichtsverfahren - und die Diskussion kam nicht auf. Die Grundsituation ist klar: Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, wenn die V-Männer abgezogen würden, könnte das Verfahren in zwei oder drei Jahren wieder aufgenommen werden. Aber so lang sich die Politiker nicht einig sind, tut sich nichts.

sueddeutsche.de: Wäre ein Verbot hilfreich im Kampf gegen Rechts?

Speit: Ich sehe drei direkte Folgen eines möglichen Verbots. Erstens könnte sich die NPD nicht mehr aus staatlichen Geldern finanzieren, zweitens würde ihr die Möglichkeit genommen, im Wahlkampf, rechtsextremistische, antisemitische und antidemokratische Hetze zu verbreiten. Und drittens wäre etwas Zeit gewonnen, denn wahrscheinlich würde es drei oder vier Jahren dauern, bis sich eine neue Partei mit ähnlichem Profil gebildet hat. Das zeigt die Erfahrung mit Verboten im rechtsextremen Spektrum. Die Befürchtung, viele Mitglieder würden in den Untergrund gehen, ist meiner Ansicht nach nicht gegeben.

sueddeutsche.de: Auch die Zahl der antisemitischen Straftaten ist gestiegen.

Speit: Die Entwicklung wird anhalten - nicht nur wegen des militärischen Konflikts zwischen Israel und Hamas. Die Studien von Heitmeyer zeigen, dass es antisemitische Ressentiments in Deutschland gibt. Sie könnten in Folge der Finanzkrise weiter ansteigen. Das Zerrbild des raffgierigen jüdischen Spekulanten ist weit verbreitet. Darauf setzt die NPD ganz offen. Ihr Vorsitzender Udo Voigt betont oft: "Viele Bürger denken, was wir sagen, die müssen wir nur erreichen."

© sueddeutsche.de/jja/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: