Weltweit liegen Nationalisten in der Wählergunst vorne. Sie bedienen ein Sicherheitsbedürfnis, das in einer entgrenzten Welt immer weiter wächst. Die traditionellen Antworten der politischen Linken hingegen werden nicht mehr als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems wahrgenommen.
Die aktuelle Auseinandersetzung um die Pegida-Bewegung und ihre Sympathisanten verstellt den Blick darauf, dass der Nationalismus in den vergangenen Monaten mit Wucht als globales Phänomen zurückgekehrt ist. Dabei ist er vielerorts weit stärker als in Deutschland. Denn 2014 war nicht nur das Jahr der Krimkrise und der Autokratisierung Wladimir Putins, sondern auch ein globales Super-Wahljahr.
Die Ergebnisse: das Desaster der Demokraten in den US-Midterms, die durch Wahlen abgesegnete Erdoğan-Rochade in der Türkei, die Orbanisierung Ungarns, der Wahlsieg Shinzo Abes in Japan und der Triumph des Hindu-Nationalisten Modi in Indien. Die Liste ließe sich fortsetzen. Auch die Erfolge der populistischen Parteien von UKIP über den Front National bis zur AfD belegen eine globale Renaissance des Nationalismus, die man als Konservativismus bezeichnen könnte, wenn sie sich nicht so dezidiert den Status quo als Feindbild auserkoren hätte.
Rückbesinnung auf religiöse Werte
Mit einigem Recht spricht Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier von einer Welt "aus den Fugen". Doch die aktuelle Renationalisierung ist nicht Ursache, sondern Symptom eines tieferliegenden Wandels. Dieser geht vielerorts mit einer Rückbesinnung auf religiöse Werte einher - oder auf das, was dafür gehalten wird. In China leben und praktizieren mittlerweile 100 Millionen Christen, der Papst wurde im vergangenen Jahr zum Superstar, und in den USA kippte der Supreme Court das Verbot religiöser Rituale bei politischen Versammlungen. Auch in der Türkei ist der Laizismus auf dem Rückzug und in Israel stürzte die Regierung über die Kontroverse um den "jüdischen Staat". Vom brutalen Aufstieg des "Islamischen Staates" ganz zu schweigen.
Die Welt ist aus den Fugen? Die Welt sucht nach Gewissheiten. Denn das Globale ist für viele offenbar kein Versprechen mehr, sondern Bedrohung und Quelle unkalkulierbarer Risiken von Ebola über TTIP und Zuwanderung bis hin zu einem gnadenlosen globalen Wettbewerb. In dem Maße wie technologischer Fortschritt Grenzen durchlässig macht und die Geografie überwindet, wächst das Bedürfnis nach Sicherheit und klar greifbarer Identität.
Deutlich wird der wachsende Wunsch nach Gewissheiten auch an der Bedeutungsverschiebung des Begriffs "Wandel" an sich. Barack Obamas Slogan "Change" ist sechs Jahre - und eine halbe Ewigkeit - her. Vieles spricht dafür, dass heute nicht Verheißungen einer goldenen Zukunft, sondern Schutzversprechen vor einer bedrohlichen Welt den Weg zu Wahlerfolgen ebnen. Nicht zuletzt in Deutschland setzte eine Bundeskanzlerkandidatin bekanntlich erfolgreich auf ein exakt kalkuliertes Zusammenspiel aus patriotischem Bekenntnis per Deutschlandkette und der "Sie kennen mich" Beruhigungsformel.
Tatsächlich stellt die globale Renaissance des Nationalen für die Linke ein weit größeres Problem dar als für die Rechte. Faktisch ist die Linke global auf dem Rückzug. Sicher: Hier und da reicht es für einen Wahlsieg, wie zuletzt in Italien und Schweden. Und in Lateinamerika ist die Verbindung von Sozialreformen, Nationalismus und einer ordentlichen Dosis Populismus ohnehin schwer zu schlagen.
Doch andernorts sind Erfolge eher den Besonderheiten der Wahlsysteme und gesunkenen Beteiligungsquoten zu verdanken. Breite gesellschaftliche Mehrheiten? Das war einmal. Warum ist das so? Müsste nicht gerade in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise die Stunde der linken Parteien schlagen? Ist nicht gerade jetzt die Zeit reif für eine Politik, die wildgewordene Marktkräfte domestiziert? Sicher. Doch aus theoretischen Herleitungen ergeben sich keine emotionalen Wähleransprachen.
Im Gegenteil, die gängigen Gegenstrategien der Linken verfangen kaum noch. Teil des Problems ist dabei, dass die traditionellen Heilsversprechen der aufgeklärten Linken auf Internationalisierung, globale Regelungsmechanismen, Pluralität und - in Europa - auf eine stetig zu vertiefende Integration und Expansion der Europäischen Union abzielen. Wenn jedoch das Internationale nicht mehr als Verheißung, sondern als Bedrohung wahrgenommen wird, muss ein solcher Ansatz an seine Grenzen stoßen.
Dabei ist klar: Natürlich hat die Überwindung enger nationaler Horizonte zur Bearbeitung globaler Herausforderungen seine Berechtigung. Klimaschutz und kollektive Sicherheit etwa sind nicht in Alleingängen erreichbar. Doch für weite Teile der Öffentlichkeit ist die Chimäre einer abgehobenen Weltinnenpolitik eben längst nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
Linke Identitätspolitik ist kein massenkompatibler Politikentwurf
Lobeshymnen auf die Überwindung des Nationalen sind daher denkbar ungeeignet, die Kluft zwischen der Linken und den Mehrheitsgesellschaften zu schließen. Zumal wenn sie im Gestus der Wählerverachtung vorgetragen werden und sich gestalterischer Anspruch nur noch in progressiver Identitätspolitik entfaltet. Sicher, auch die Linke hat - über Jahre erfolgreich - Identitätspolitik betrieben. Doch die bittere Wahrheit ist: Linke Identitätspolitik ist heute kein massenkompatibler Politikentwurf. So hat das Hinterfragen von Geschlechterrollen sicher seine Verdienste, doch Gender Mainstreaming ist alles, aber kein Fels in der Brandung der Unwägbarkeiten.
Eine Linke, die Wahlen wieder gewinnen will, muss daher die Quadratur des Kreises versuchen. Sie muss sich bemühen, die Sorgen und Nöte der Menschen ernst zu nehmen, selbst wenn dies ein inhaltliches Abrücken von den Monstranzen der reinen Lehre erforderlich macht.
In einer Situation, in der politische Parteien weltweit unter Mitgliederschwund leiden und zum Teil zu Elitenrekrutierungsklüngeln verkommen sind, ist das schwierig. Doch es geht nicht darum, linke Traditionen über Bord zu werfen. Es geht darum, sie wiederzuentdecken. Die gemäßigte Linke hat seit August Bebel und Jean Jaurès für internationalistische Überzeugungen gestritten und gelitten. Doch sie war dabei stets auch den Interessen der Arbeiterklasse im nationalen Rahmen verpflichtet. Erst im Zuge der betriebenen neoliberalen Wirtschaftsordnung ist der Nationalstaat als zentrales Instrument zurückgelassen worden. Eine Linke mit Zukunft sollte sich darum bemühen, ihn wieder heranzuholen. Denn ansonsten wird er den Falschen überlassen - überall.