Süddeutsche Zeitung

Recherche zu Toleranz in Deutschland:Wenn der Bundespräsident behindert wäre

Vorurteile will keiner haben. Aber mit einem Staatsoberhaupt im Rollstuhl würden sich viele doch nicht ganz wohl fühlen. Toleranz gegenüber Menschen mit Behinderung - ein Thema unseres Rechercheprojekts und im Funkhausgespräch des BR, das Sie live auf SZ.de verfolgen können.

Von Sabrina Ebitsch

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wie tolerant sind Sie eigentlich? Eine zentrale Frage, auf die wir mit unserem Recherche-Dossiers zum Thema Toleranz Mitte November noch einmal gesondert eingehen werden. Wo sehen Sie sich, auf einer Skala von eins bis zehn? Vermutlich ziemlich weit oben, wenn die eins für "gar nicht" steht. Das hat zum einen mit einer sehr menschlichen und sehr verbreiteten Selbstüberschätzung zu tun, die Psychologen Overconfidence nennen. Schließlich halten sich so viele Autofahrer für überdurchschnittlich gute Autofahrer, dass keiner mehr Durchschnitt ist.

Es hat zum anderen mit dem mangelnden Bewusstsein für die eigenen Vorurteile zu tun. Deswegen haben die meisten natürlich überhaupt kein Problem mit Migranten, Schwulen oder behinderten Menschen. Aber wenn die Deutschen danach gefragt werden, wie wohl sie sich mit einem Bundespräsidenten nichtdeutscher Herkunft fühlen würden, wieder auf einer Skala von eins bis zehn, kommen sie über einen mageren Wert von 5,6 nicht hinaus. Damit liegen sie deutlich unter EU-Durchschnitt.

Ähnlich bei der Akzeptanz von einem behinderten Menschen in einer so wichtigen politischen Position, auch wenn hier der Wohlfühlwert der Durchschnittsdeutschen immerhin bei 7,6 liegt. Das wird auch in den vielen Zuschriften deutlich, die uns seit voriger Woche erreicht haben. Eine blinde Leserin beispielsweise berichtet aus ihrem Alltag:

"Ich werde häufig einfach mit du angesprochen. Wenn eine Begleitperson dabei ist, wird immer die Begleitperson angesprochen und nicht ich. ... Ich werde nicht ernst genommen. Ich habe studiert und einen Abschluss mit 1,3 hingelegt. Dennoch wirke ich sehr inkompetent, und mir werden häufig Aussagen nicht geglaubt. Mich stört es auch, wenn Leute sagen: 'Toll, dass du studiert hast.' Nicht nur ich, sondern auch andere Blinde empfinden dies als vergiftetes Lob, so als könne jemand, der nicht sieht, nicht studieren."

Ähnliches hat sicher auch Verena Bentele, zwölffache Paralympics-Siegerin , Behindertenbeauftragte der Bundesregierung und ebenfalls blind, im heutigen Funkhausgespräch des Bayerischen Rundfunks zu berichten. Sie diskutiert mit Maximilian Dorner, Schriftsteller mit Rollstuhl, und der Epilepsie-Betroffenen Nicole S. über ein Leben mit Behinderung. Über die Toleranz, die ihnen entgegengebracht wird. Über die Toleranz, die sie gegenüber Nichtbehinderten haben müssen. Über die Realität hinter Statistiken und Ansprüchen. Darüber, wie Inklusion und ein gleichberechtigtes Miteinander tatsächlich gelebt werden - und was sich ändern muss.

Im Rahmen des von den Lesern gewählten Recherche-Schwerpunkts und der ARD-Themenwoche Toleranz kooperiert SZ.de mit dem Bayerischen Rundfunk: Den Livestream zum Funkhausgespräch können Sie von 17.30 Uhr bis 18.20 Uhr hier verfolgen. Die Sendetermine dieser und weiterer Diskussionsrunden finden Sie in der Infobox.

BR-Funkhausgespräche: Wie tolerant sind wir wirklich?

Diskussion über kulturelle Vielfalt

ARD-alpha: 17.11.2014, 21.45 Uhr / Bayern 2: 14.11.2014, 10.05 Uhr

Diskussion über sexuelle Orientierung

ARD-alpha: 18.11.2014, 21.45 Uhr

Diskussion über Religion und Weltanschauung

ARD-alpha: 19.11.2014, 21.45 Uhr / Bayern 2: 17.11.2014, 21.05 Uhr

Diskussion über das Leben mit Behinderung

ARD-alpha: 20.11.2014, 21.45 Uhr / Bayern 2: 21.11.2014, 10.05 Uhr

Jetzt erstmal viel Spaß beim Zuschauen. Wir freuen uns über Gedanken und Anregungen dazu oder zu unserer Toleranz-Recherche im Allgemeinen. Oder über weitere Mails, Tweets und Posts zu unserem #momentmal-Aufruf, der latente Vorurteile entlarven soll.

Bis demnächst,

Sabrina Ebitsch, Team Die Recherche

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