Süddeutsche Zeitung

Reaktionen auf Koalitionsbeschluss: Rot-Grün vermutet Atomausstieg mit Hintertürchen

Die Opposition sieht viele ungeklärte Fragen beim Atom-Ausstiegsplan der Regierung - wobei die SPD angeblich erwägt zuzustimmen. FDP-Fraktionschef Brüderle frohlockt darüber, dass einige Meiler länger stand-by laufen dürfen.

SPD und Grüne lassen offen, ob sie den von der schwarz-gelben Koalition vereinbarten Atomausstieg unterstützen werden. Allerdings kursieren in Berlin inzwischen Gerüchte, wonach die Sozialdemokraten womöglich doch den Atomausstiegsplänen der Bundesregierung zustimmen. Union und FDP kehrten mit ihrem Plan weitgehend zum rot-grünen Ausstiegsbeschluss zurück, zitierte die Nachrichtenagentur dpa eine Stimme aus Parteikreisen.

Bei den Grünen hingegen überwiegt bislang klar die Skepsis: "Es sind noch ziemlich viele Fragen sehr, sehr offen", sagte Grünen-Chefin Claudia Roth im ZDF. Die Grünen könnten sich erst dann eine Meinung bilden, wenn alles auf dem Tisch liege, was die Bundesregierung vorhabe.

Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin sagte im Bayerischen Rundfunk, Schwarz-Gelb habe in den Beschlüssen Hintertüren offengelassen. Beispielsweise beinhalteten sie "in einem bisher nicht überprüfbaren Maß die Möglichkeit, Strommengen von einem Atomkraftwerk aufs andere zu übertragen und auf diese Weise Verlängerungen einzubauen".

Die SPD knüpfet ihre Zustimmung zur Energiewende der Bundesregierung an Bedingungen. "Wesentliche Abweichungen sind aus unserer Sicht notwendig im Erneuerbare-Energien-Gesetz", sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel in Berlin. Aus Sicht der SPD fehle eine Beschleunigung des Ausbaus der Nutzung regenerativer Energien. Außerdem müsse der Ausstieg aus der Atomenergie so gestaltet werden, dass ein Abschalten des letzten Akw noch vor dem von der Bundesregierung geplanten Datum im Jahr 2022 möglich sei. "Wir werden nicht um zwölf oder 18 Monate feilschen, was das Datum angeht." Aber wenn es machbar sei, müsse das letzte AKW auch schon früher abgeschaltet werden.

In der Nacht hatte er bemängelt, dass noch viele Fragen ungeklärt seien. Auf Kritik der Opposition stieß auch der Plan der Koalition, dass eines der älteren Atomkraftwerke bis 2013 als Reserve-Kraftwerk, sogenannte kalte Reserve, bereitstehen soll. Gabriel erklärte, man werde eine Revisionsklausel, nach der der Atomausstieg noch mal überprüft werden müsse, nicht akzeptieren. Trittin ergänzte, das gelte auch für den Vorstoß, jetzt abgeschaltete Altmeiler als Reserve zu behalten. Beide Vorschläge hatte die FDP gemacht.

Der Linken geht der von der Bundesregierung anvisierte Atomausstieg nicht schnell genug. "Elf weitere Jahre setzt die Koalition auf die Atomkraft", teilte die umweltpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Eva Bulling-Schröter, in Berlin mit. "Das ist kein Ausstiegsbeschluss, sondern ein gefährliches Spiel mit der Sicherheit der Bevölkerung." Ihre Partei werde weiterhin für einen deutlich schnelleren Atomausstieg streiten.

Die Linke halte das Jahr 2014 als Ausstiegsjahr für technisch machbar. Linke-Chefin Gesine Lötzsch forderte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) auf zu erklären, wie der Atomausstieg bezahlt werden solle. Es müsse verhindert werden, dass sich die Atomkonzerne beim Ausstieg "eine goldene Nase" verdienen".

Bei den Liberalen bemühte man sich, die durchgesetzten Punkte in den Vordergrund zu stellen, schließlich musste der neue Parteichef Philipp Rösler in einem Kernanliegen zurückstecken. Rösler, der auch seit kurzem Wirtschaftsminister ist, hatte zwar die kalte Reserve vorgeschlagen, wollte aber gleichzeitig einen schnellen Ausstieg verhindern.

FDP: Ein Komprimiss, keine Niederlage

Röslers Vorgänger im Wirtschaftssressort und heutige FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle beeilte sich denn auch, seine Partei nicht als Verlierer der Koalitionsbeschlüsse zum Atomausstieg darzustellen. "Wenn Sie in der Regierung Kompromisse machen, ist nicht jeder Kompromiss sofort eine Niederlage", sagte Brüderle im Bayerischen Rundfunk. "Was wir wollten, ist ein Korridor." Dieses Ziel sei erreicht worden, da der Ausstieg in drei Stufen erfolge.

Insgesamt habe sich die Koalition auf einen "machbaren, nachvollziehbaren Weg" verständigt, so der Freidemokrat. Zu diesem gehörten auch die Maßnahmen zum Netzausbau, zum Neubau fossiler Kraftwerke oder zur Förderung der Gebäudeeffizienz. Stromkunden müssten jedoch aufgrund der Maßnahmen mit "Preisanpassungen" rechnen, sagte Brüderle weiter. Das Plus werde aber moderat ausfallen.

FDP-Generalsekretär Christian Lindner sprach von einem "ehrgeizigen" Plan. "Im Rahmen dessen, was nach menschlichem Ermessen möglich ist, haben wir jetzt weltweit - für alle führenden Industrienationen kann man das sagen - das ehrgeizigste Vorhaben bei der Energiewende", sagte Lindner im Deutschlandfunk.

Greenpeace wirft Kanzlerin Wortbruch vor

Die Koalitionsspitzen hatten sich in der Nacht auf einen Ausstieg aus der Atomenergie bis spätestens 2022 verständigt. Die acht älteren Atomreaktoren - inklusive Krümmel - blieben vom Netz, sagte Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) am frühen Montagmorgen. Sechs weitere Meiler sollten bis spätestens 2021 vom Netz gehen, die drei neuesten AKW dann spätestens 2022. Die Regelung entspreche insgesamt einer Restlaufzeit von 32 Jahren. "Aber definitiv: Das späteste Ende für die letzten drei Atomkraftwerke ist dann 2022", betonte Röttgen.

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace nannte diese Frist inakzeptabel. Ein Ausstieg bis 2022 sei nicht der schnellstmögliche, den Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versprochen habe. '"Merkel hat ihr Wort gebrochen und nichts aus Fukushima gelernt."

In Brüssel stieß die Entscheidung hinter den Kulissen auf Bedenken. "Es gibt einige Fragezeichen", verlautete aus der EU-Kommission. So habe Deutschland ein Kostenproblem, weil viel Geld in erneuerbare Energien investiert werden müsse. Berlin müsse Milliarden in den Ausbau der Infrastruktur stecken, die bei weitem nicht ausreiche. So könne Windenergie vom Meer bislang nicht nach Bayern transportiert werden. Zudem befürchtet die EU-Behörde, dass Deutschland die verbindlich vereinbarten Klimaschutzziele nicht einhalten könne, wenn Kohlekraftwerke ausgebaut würden. Offiziell wollte sich die EU-Kommission nicht äußern.

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