Reaktionen auf Erdoğans Politik:"Es fehlen die klaren Worte"

Riot police use water cannons to disperse protesters during a protest against the arrest of pro-Kurdish Peoples' Democratic Party (HDP) lawmakers, in Istanbul

Proteste gegen die Festnahme von Parlamentariern in Istanbul: Die Polizei geht gegen Demonstranten mit Wasserwerfern vor.

(Foto: Kemal Aslan/Reuters)

Von der Straße bis zur Staatsspitze, von Berlin bis Brüssel, fordern Erdoğan-Kritiker Konsequenzen angesichts der Unterdrückung jeder Opposition. Wenn da nur nicht der Flüchtlingsdeal wäre.

Von Varinia Bernau, Nico Fried und Thomas Kirchner, Berlin/ Köln

Botan ist 30 Jahre alt und Kurde. Er lebt in Kassel, wo er Bauingenieurwesen studiert, aber an diesem Samstag demonstriert er in Köln gegen das immer autoritärere Gebaren des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. 6500 Menschen sind gekommen, um ihrem Unmut über die jüngsten Verhaftungen von Journalisten und kurdischen Abgeordneten Luft zu machen - aber auch über die aus ihrer Sicht zu laschen Reaktionen.

Botan marschiert durch die Kölner Innenstadt, er trägt ein Plakat mit einer Karikatur. Sie zeigt den "Diktator Erdowahn", gekleidet in der Uniform von Adolf Hitler - und dazu die Nato in Gestalt der drei Affen, die sich die Hände vor Augen, Mund und Ohren halten. Die Stimmung, so sagt er, erinnere ihn an die Neunzigerjahre. Damals spitzte sich der Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Minderheit zu: Selbstmordattentate erschütterten die Türkei, und auch auf deutschen Straßen gab es große Demonstrationen. "Damals haben alle die PKK gefragt: Warum greift ihr zu den Waffen?" Aber nun, da die türkische Polizei Abgeordnete der pro-kurdischen HDP-Partei festnehmen ließ, zeige sich, dass der Weg durchs Parlament nicht möglich sei.

Selbst Bundespräsident Gauck reagiert. Am Montag empfängt er einen geflüchteten Journalisten

Wer die Menschen fragt, warum sie an diesem Samstag auf die Straße gehen, der hört immer wieder von Wut, Trauer und Enttäuschung - und gemeint sind auch die europäischen Politiker. "Die denken doch nur an ihren Flüchtlingspakt", schimpft die 23-jährige Rohani Cekdar. Dabei würden sich, wenn Erdoğan weiter mit einer solchen Härte gegen die Kurden in der Türkei vorgehe, auch diese auf die Flucht begeben. Die Studentin Zaran Beritan erzählt von der Angst ihrer Verwandten, die in den kurdischen Gebieten der Türkei leben. Einige seien zu Angehörigen in andere Regionen gezogen. Den Anschlägen und Ausgangssperren in ihrer Heimat konnten sie so entkommen. Der Angst nicht. Auch Beritan sagt mit Blick auf die hiesigen Politiker: "Es fehlen die klaren Worte."

Von allen Seiten wächst der Druck auf die Bundesregierung und die Europäische Union, Erdoğan nicht mehr nur mit Erklärungen und Sorgen entgegenzutreten. In Deutschland kommen die kritischen Stimmen von der Straße, aber auch von ganz oben: In für einen Bundespräsidenten ungewöhnlich deutlicher Weise hat Joachim Gauck das Vorgehen der türkischen Behörden kritisiert. Am Montag empfängt er den Cumhuriyet-Journalisten Can Dündar, der vor der türkischen Justiz nach Deutschland geflohen ist. Die Opposition fordert Konsequenzen. Linke-Chef Bernd Riexinger gab der Bundesregierung in Köln sogar eine Mitverantwortung für das Geschehen in der Türkei, weil sie Erdoğan nicht ausreichend unter Druck gesetzt habe.

Bundeskanzlerin Angela Merkel steht unter dem Verdacht, ihre zögerliche Haltung sei der Sorge um das EU-Flüchtlingsabkommen geschuldet. Aus ihrer Sicht hat das eine aber mit dem anderen gar nichts zu tun. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Freitag zu Forderungen nach einer Aufkündigung des Abkommens, ihm habe noch niemand klarmachen können, warum es gegen Einschränkungen der Pressefreiheit oder dem Vorgehen gegen die Opposition "irgendwelche Abhilfe schaffen könnte, wenn wir die Möglichkeiten für illegale Migration und für die Schleuserkriminalität fördern würden".

Mit Blick auf die Forderung, die Beitrittsgespräche abzubrechen, verweist man in Berlin nach Brüssel. Von dort wird der Ball zurückgeschossen. Schließlich lautet der offizielle Auftrag an die EU-Kommission noch immer, weiter mit Ankara zu verhandeln. Ändern könnten das nur die Mitgliedstaaten. Insofern war die Brüsseler Reaktion am Freitag zwar deutlich. Sie sei "äußerst besorgt", sagte die EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini, und habe ein "Treffen der EU-Botschafter in Ankara" einberufen. In der Türkei wird das niemanden beeindrucken.

Hinter den Kulissen aber hat eine heftige Diskussion über den weiteren Umgang mit dem unmöglichen Beitrittskandidaten begonnen. Sichtbar werden wird dies am kommenden Mittwoch, wenn das Kommissionskollegium den neuesten Türkei-Fortschrittsbericht bespricht und verabschiedet. Er wird verheerend ausfallen. "Im Bereich der Meinungsfreiheit hat es im vergangenen Jahr einen schwerwiegenden Rückfall gegeben", heißt es darin laut der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Rechtsbestimmungen über die nationale Sicherheit und zum Kampf gegen Terrorismus würden "selektiv und willkürlich" angewendet. Die Kommission äußert sich zudem "ernsthaft besorgt" über die vielen verhafteten Journalisten und die Schließung von Medien seit Mitte Juli. Beschuldigte säßen bis zu 30 Tage in Haft, bevor sie einem Richter vorgeführt werden, es gebe Berichte über Folter von Gefangenen.

"Für die progressiven Kräfte in der Türkei ist eine Isolation verheerend", sagt Martin Schulz

Welche Konsequenzen das aber haben soll, darüber gehen die Ansichten in Brüssel auseinander. Das eine Lager stemmt sich gegen einen Bruch mit Ankara. "Gerade für die progressiven Kräfte in der Türkei ist eine Isolation verheerend", sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz der Süddeutschen Zeitung. "Deshalb ist nicht trotz, sondern gerade wegen der fatalen Entwicklungen in der Türkei ein weiterer EU-Türkei-Dialog dringend erforderlich."

Dieser Gedanke, über den Dialog auf Erdoğan einwirken zu können, sei von Beginn an falsch und gefährlich naiv gewesen, hält ein Minderheitslager dagegen. Der türkische Präsident habe sich niemals für die Wünsche der Europäer nach mehr Fairness und Rechtsstaatlichkeit interessiert. Und deswegen sei es auch ein gewaltiger Fehler gewesen, ihm durch den Flüchtlingsdeal ein Erpressungsmittel in die Hand zu geben. Das habe ihn vielmehr zu einem noch radikaleren Vorgehen im eigenen Land ermuntert. Was jetzt passiere, zeige endgültig, dass die maßgeblich von Berlin angestoßene Flüchtlings- und Türkeipolitik der EU auf einer groben Fehleinschätzung beruhe.

Aus dieser Erkenntnis heraus, so heißt es in Brüssel weiter, müsse nun ein Ruck durch die Mitgliedstaaten gehen. Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen, wie ihn Österreich vehement fordert, stelle eine "Atombombe" dar, das sei weder mit Merkel noch mit Kommissionschef Jean-Claude Juncker zu machen. Aber möglich wäre durchaus, die Verhandlungen auszusetzen und/oder Sanktionen zu verhängen.

Möglich ist das. Möglich ist auch, dass Ankara dann den Flüchtlingsdeal aufkündigt. Die Europäer müssen sich fragen, ob sie dieses Risiko eingehen wollen.

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