Süddeutsche Zeitung

Reaktion auf die Krise:Europa hat das Vertrauen in sich verloren

Die Europäische Union steckt in der Krise. Und was ist die Antwort? Brüssel hat sich für Rückzug statt Angriff entschieden.

Essay von Thomas Kirchner, Alexander Mühlauer und Jennifer Rankin

Von manchen ermüdenden Auftritten Jean-Claude Junckers in jüngster Zeit war es einer der fadesten. Am 9. Dezember, seinem eigenen Geburtstag, hielt der Präsident der EU-Kommission auf einer Konferenz in Maastricht eine knapp 20-minütige Rede. 25 Jahre zuvor hatten er und andere europäische Staats- und Regierungschefs in der niederländischen Stadt die Einführung des Euro beschlossen.

Lustlos erzählte der Luxemburger einige Anekdoten aus jener Zeit, garniert von der oft gehörten Ermahnung, "dass wir ungenügend stolz auf das Erreichte sind". In anderen Teilen der Welt gelte die EU schließlich als eine "außergewöhnliche, interkontinentale Leistung".

Das war's. Keine Feierstunde im Europäischen Parlament, keine Grußworte aus den Hauptstädten. In der täglichen Pressekonferenz der Kommission wurde das Ereignis nicht angesprochen. Das Jubiläum des "entscheidenden Augenblicks der modernen europäischen Geschichte", wie es Juncker selbst nannte, ging fast unbeachtet über die Brüsseler Bühne.

Der Grund ist offensichtlich. Es gibt keinen Anlass, stolz auf diesen Euro zu sein. Im Gegenteil, seine Krise ist eine der schwersten, die der Union zu schaffen machen. Und die anderen Krisen - Brexit, die populistische Herausforderung, die fehlende Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen, das auftrumpfende Russland - sind kaum leichter.

Die EU befindet sich in einem desolaten Zustand, der ihren Politikern und Bürokraten natürlich bewusst ist. Sie reagieren mit Rückzug. Sie wissen: Dies ist nicht die Zeit für Visionen oder hochfliegende Pläne, dies ist die Zeit für Verteidigung. Der Klub hat sich Bescheidenheit verordnet.

Gerade jetzt, könnte man meinen, müsste die Gemeinschaft doch positiv nach vorne schauen

In seiner State-of-the-Union-Rede gab Juncker im September den Ton vor: Kleinlaut zählte er eine Handvoll Projekte auf. Der Höhepunkt: Gratis-Internet für jedes Dorf des Kontinents bis 2020. Es war nichts dabei, das die Herzen der Europäer erwärmen könnte.

Auch die Bratislava Roadmap, mit der die EU auf den Brexit-Schock reagierte, im Hinblick auf den 60. Geburtstag der Gemeinschaft im März, geriet zum Dokument der Defensive. "Die EU ist zwar nicht fehlerfrei", heißt es darin, "aber sie ist das beste Instrument, über das wir verfügen, um die neuen vor uns stehenden Herausforderungen zu bewältigen." Mehr Sicherheit und Grenzschutz, darauf können sich alle gerade noch verständigen. Das Ziel aber, den "Konsens" über die Migrationspolitik "auf eine breitere Basis zu stellen", erscheint als Wunschtraum.

Viele Europäer mögen diese Zurückhaltung beklagen. Gerade jetzt, so könnte man meinen, müsse die EU doch positiv nach vorn schauen, müsse die europäische Zusammenarbeit als unerlässlich verkaufen, am besten so offensiv und leidenschaftlich, wie das EU-Parlamentspräsident Martin Schulz immer getan hat. Bringen würde das nichts, sagt Janis Emmanouilidis vom European Policy Center, einem Thinktank. "Jetzt auf dem Reißbrett etwas zu entwerfen, das ohnehin nicht umsetzbar ist, das würde nach hinten losgehen."

Die Brüsseler Zurückhaltung ist im Grunde nicht neu. Junckers Kommission trat 2015 mit dem Willen an, Subsidiarität ernst zu nehmen. Das heißt: nur noch Großes anzugehen, das aber richtig, und Kleines möglichst den Staaten zu überlassen; weniger zu regulieren, aber dafür besser.

Treibende Kraft war Junckers Vize Frans Timmermans, der das Motto aus den europaskeptischen Niederlanden mit nach Brüssel gebracht hatte. Die Kommission hat sich an die Vorgabe gehalten, zum Ärger vieler Parlamentarier und Lobbyisten. Aus halb erzwungener, halb gezielter Zurückhaltung ergibt sich insgesamt das Bild eines gemeinsamen Europas, das sich in einer langen Phase der Konsolidierung zu befinden scheint und vorerst auf Sicht fährt. Das hat Auswirkungen auf zentrale Politikbereiche.

Besonders deutlich sieht man dies beim Euro. Die gemeinsame Währung sollte einmal so etwas sein wie eine Brücke, die es schafft, eine Verbindung herzustellen, von einer ökonomischen hin zu einer politischen Union. Doch die Brücke ist längst nicht fertig, sie ist, wie es auf Bauschildern heißt, "under construction".

Dabei ist die Silvesternacht, in der die Europäer von 2001 auf 2002 plötzlich neue, bunte Scheine aus den Geldautomaten ziehen konnten, auch schon länger her. Von einer echten politischen Union ist die EU weit entfernt; wie sollte es anders sein, wenn nicht einmal die Wirtschafts- und Währungsunion vollendet ist?

Ein Fortschritt wäre dringend nötig, sonst hört die Euro-Krise niemals auf. Aber es geht kaum voran. Mit größeren Initiativen ist vorerst nicht zu rechnen. Die Regierungen der Euro-Staaten haben Angst, ihre Wähler und die Finanzmärkte zu verschrecken. Vor allem aber blockieren sie sich gegenseitig, wie sich bei jedem Treffen der Finanzminister beobachten lässt.

Etwas verallgemeinert ausgedrückt ist es so: Südlich der Alpen dringen die Länder auf mehr Vergemeinschaftung, etwa in Form einer EU-Arbeitslosenversicherung. Nördlich der Alpen wird diese Mithaftung abgelehnt, so auch die gemeinsame Einlagensicherung. Arbeitslosenversicherung und Einlagensicherung wären für einen starken Wirtschafts- und Währungsraum unabdingbar. Doch die Nord-Staaten haben ein gewichtiges Argument: Bevor die Gemeinschaft haftet, müssen die Risiken verringert werden - etwa in den Bankbilanzen.

Zwei unvereinbare Denkschulen

Das Problem ist nur: Solange diese beiden Denkschulen existieren und solange deren Protagonisten sich nicht miteinander auseinandersetzen sondern aneinander vorbeireden, bleibt der Euro angreifbar. Der Teufelskreis aus Überschuldung und Haftungsrisiko wird so nicht durchbrochen. Bisher bewahrt vor allem der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, Europa vor einer neuen Krise, indem er die alten Probleme bezahlbar und irgendwie erträglich macht.

Draghi ist einer der Autoren des Fahrplans für eine Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion. Im sogenannten Fünf-Präsidenten-Bericht sind all jene Schritte aufgelistet, die es zu tun gilt. Bis spätestens 2025 soll sie vollendet sein. Im Einzelnen sprechen sich die Präsidenten für Fortschritte in vier Bereichen aus.

Erstens soll sich die Euro-Zone in Richtung einer "echten Wirtschaftsunion" bewegen. Zweitens seien weitere Schritte zu einer "Finanzunion" notwendig, die die Integrität des Euro gewährleiste und die Risikoteilung im privaten Sektor erhöhe. Dazu zählen die Vollendung der Bankenunion und ein gemeinsames europäisches Einlagensicherungssystem. Drittens schlagen die Präsidenten die Schaffung einer "Fiskalunion" vor, die sowohl haushaltspolitische Nachhaltigkeit als auch die Stabilisierung der öffentlichen Haushalte bewirken soll. Viertens soll langfristig die "Politische Union" vorangetrieben werden - mit "wahrer politischer Rechenschaftspflicht, Legitimität und einer Stärkung der Institutionen (als) Grundlagen für die drei anderen Unionen".

Offen ist jedoch, wie eine solche Union zu gestalten ist. Die Vorschläge reichen von dem vagen Konzept einer "EU-Wirtschaftsregierung", die koordinierte Strukturreformen fördern soll, über Durchgriffsrechte der Kommission auf nationale Haushalte bis zu einem vollwertigen "Euro-Zonen-Parlament" für die Länder der Euro-Zone.

Brüssel hat seinen Elan verloren

Leider werden sämtliche Vorschläge und Forderungen nicht als Gesamtkonzept diskutiert, sondern gelangen immer wieder punktuell auf die Tagesordnung. Dabei auch immer wieder gerne die Frage: Braucht es einen Finanzminister für die Euro-Zone? Letztens hatte EU-Kommissar Pierre Moscovici seine Behörde zum "kollektiven Euro-Finanzminister" ausgerufen.

Schnell bekam die Debatte klamaukhafte Züge. Jeroen Dijsselbloem, der Euro-Gruppen-Präsident, wies darauf hin, dass es immer noch 19 Euro-Finanzminister gebe. Und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ließ Moscovici mit seiner Idee schön abblitzen. Dabei wäre nicht nur diese Idee eine vertiefte Debatte wert.

Die matte Erschöpfung, die Brüssel zur Zeit ergriffen zu haben scheint, ist ein junges Phänomen. Europa-Politik war über Jahrzehnte auch von Optimismus, Elan und Mut geprägt. So galt der Kampf für eine grüne Zukunft einmal als "das nächste große Ding" der EU.

Die Union als Friedensprojekt, das war jüngeren Generationen, die den Krieg nur aus Geschichtsbüchern kannten, nicht mehr so leicht zu verkaufen. Die Union als grünes Projekt hingegen begeisterte. Es waren nicht mehr Kampfflieger und Bomben, vor denen die Menschen sich fürchteten, sondern Wassermangel, Waldsterben und Luftverschmutzung.

Vor zehn Jahren bezeichnete der Labour-Politiker David Miliband, der damals als möglicher neuer Premierminister gehandelt wurde, die Umwelt als das Thema, das am ehesten geeignet sei, Europas unzufriedene Bürger mit ihren Politikern zu versöhnen und das Vertrauen in die EU-Institutionen wiederherzustellen. Die Europäische Union und die Umwelt hätten komplementäre Bedürfnisse, schrieb er: Die eine suche ein Ziel, die andere jemanden, der sich für sie einsetzt.

Es lag nahe, die EU als Vorkämpfer der Umwelt zu sehen. Es waren die EU-Umweltminister, die 1996 als Erste das Ziel ausgaben, die globale Erwärmung auf zwei Grad zu beschränken, auf Drängen einer ehrgeizigen deutschen Ministerin namens Angela Merkel. Und da hatte die EU schon jede Menge Gesetze verabschiedet, die Strände sauber hielten, die Emissionen von Fabriken begrenzten sowie mehr als 1500 Vögel, Tiere und Pflanzen schützten.

Der Traum von einer Umwelt-Union

Die folgende Wirtschaftskrise und die verzweifelte Suche nach Arbeitsplätzen ließen den Traum einer "Umwelt-Union" jedoch schnell verfliegen. Einen zusätzlichen Schlag erhielt die Glaubwürdigkeit der EU, als es nicht gelang, die haushohen Erwartungen des Kopenhagener Klimagipfels 2009 zu erfüllen. Die EU, errichtet auf dem Fundament von Kohle und Stahl, tat sich immer schwer, den kühnen Ankündigungen auch energische Taten folgen zu lassen.

Ihr Versprechen, die Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 40 Prozent zu senken, wird sie laut der Organisation Climate Action Tracker ebenso wenig erfüllen wie das weniger ehrgeizige Ziel, das 2016 in Paris vereinbart wurde.

Lobby-Interessen seien eben oft stärker als das Streben nach einer umweltgerechten Wirtschaft, sagt Janez Potočnik, Umweltkommissar von 2010 bis 2014. Statt alle Kraft in die Zukunft zu investieren, verteidige die EU die Vergangenheit. Ein gutes Beispiel für fehlende Weitsicht sei der VW-Skandal, bei dem eines der erfolgreichsten europäischen Unternehmen des Betrugs bei Abgas-Messungen überführt wurde. Zwar habe er schon seit 2011 vor Problemen mit den Emissionstests gewarnt, sagt Potočnik, das Ausmaß der Manipulationen sei aber niemandem bewusst gewesen.

Auch wenn es so aussieht, als bewege sich die EU einen Schritt vor und zwei zurück, bestreitet der frühere Kommissar, dass der Union die Ideen ausgingen. Der Knappheit natürlicher Ressourcen und der Interdependenz des modernen Lebens könne nur das europäische Modell der geteilten Souveränität gerecht werden: "Die EU wird auf jeden Fall eine wichtige Rolle spielen. Ob sie ein starker Partner sein kann, hängt davon ab, wie sie ihre eigenen Probleme löst."

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Quelle:
SZ vom 05.01.2017
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