Süddeutsche Zeitung

Rat von Wissenschaftlern:Kluge Köpfe und die Wirklichkeit

Eltern und Lehrer kritisieren Vorschläge der Nationalen Akademie Leopoldina als realitätsfremd.

Von Paul Munzinger

Die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften, hat am Ostermontag ihre "Dritte Ad-hoc-Stellungnahme" zur Coronavirus-Pandemie veröffentlicht. Sie trägt den Titel "Die Krise nachhaltig überwinden" und hat vor allem drei Debatten losgetreten. Erstens: Die Schulen sollen "sobald wie irgend möglich" wieder öffnen - wann könnte das sein? Zweitens: Kitas für kleine Kinder sollen den ganzen Sommer über geschlossen bleiben - meinen die das ernst? Und drittens: In der Arbeitsgruppe, die die Vorschläge erstellt hat, gibt es mehr Männer, die Thomas mit Vornamen heißen, als Frauen. Wie bitte?

Die Leopoldina wurde 1652 in Schweinfurt gegründet, trägt ihren Namen zu Ehren des römisch-deutschen Kaisers Leopold I. und bezeichnet sich als "älteste, ununterbrochen existierende naturwissenschaftlich-medizinische Akademie der Welt". Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sie ihren Sitz in Halle an der Saale. In dem Wunsch, analog etwa zur britischen Royal Society in Deutschland eine nationale Wissenschaftsakademie zu schaffen, wurde die Leopoldina 2008 in ihre jetzige Rolle befördert. Unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen soll sie die Bundesregierung zu Zukunftsthemen beraten. Angela Merkel nannte die Nationalakademie zum zehnjährigen Jubiläum "Herz und Stimme der deutschen Wissenschaft"; die Stellungnahme vom Ostermontag bezeichnete die Bundeskanzlerin schon vor der Veröffentlichung als "sehr wichtig" für das weitere Vorgehen in der Krise.

Wer Mitglied der Leopoldina werden will, muss "herausragende wissenschaftliche Leistungen" erbracht haben, vorgeschlagen und gewählt werden. In ihrer Ahnengalerie führt die Akademie illustre Namen wie Marie Curie, Charles Darwin oder Albert Einstein. Auch unter den 1600 Wissenschaftlern aus 30 Ländern, die heute der Leopoldina angehören, findet sich viel Prominenz. Zu den 26 klugen Köpfen der Corona-Arbeitsgruppe zählen der Jurist Reinhard Merkel und der Soziologe Armin Nassehi. Viele verschiedene Disziplinen sind in der Leopoldina vertreten, entsprechend groß ist das Themenfeld, zu dem sich die Akademie öffentlich zu Wort meldet - es reicht von Wirtschaft über Demografie bis hin zu Gesundheit. Präsident ist seit März Gerald Haug, ein Klimaforscher.

Der Altersschnitt in der Akademie ist hoch, der Frauenanteil gering

"Die Akademie hat natürlich keine Legitimation für eine Gesetzgebung", sagte Haug Ende Februar in einem SZ-Interview. "Aber wir bieten Szenarien an, wie man aktuelle Probleme lösen kann." Die öffentliche Nachfrage nach diesem Angebot war in der Vergangenheit nicht immer so groß, wie man sich das bei der Gründung der Nationalakademie vielleicht vorgestellt hatte. Seit Beginn der Corona-Krise hat sich das geändert, die Leopoldina bestimmt mit ihren Empfehlungen die Schlagzeilen mit.

Doch wer an Einfluss gewinnt, auch das erlebt die Akademie gerade, muss sich auch strengere Beobachtung gefallen lassen. Der Altersschnitt in der Akademie ist mit 68 Jahren hoch, der Frauenanteil mit 14 Prozent gering. Leise Kritik daran gibt es schon lange. Dass sie nun laut wird, liegt auch an den jüngsten Vorschlägen. Viele Eltern und Lehrer kritisieren etwa die Idee, die Kitas so lange geschlossen zu halten und strikte Abstandsregeln an den Schulen durchsetzen zu wollen, als realitätsfremd. Von dieser Kritik ist es ein kurzer Weg zur Beobachtung, dass kein Mitglied der Corona-Arbeitsgruppe unter 50 ist - und auf 24 Männer zwei Frauen kommen.

"Frauen sind in unserem Autorenteam in der Tat unterrepräsentiert", teilt die Leopoldina auf Anfrage mit. Dieses Ungleichgewicht gebe es bedauerlichweise immer noch in vielen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Leopoldina setze sich für ein "ausgewogenes Verhältnis der Geschlechter im gesamten Wissenschaftssystem sowie eine Förderung der Chancengleichheit" ein, doch dies sei "ein langfristiger Prozess". Immerhin sei es gelungen, die Quote der Frauen unter Neu-Mitgliedern auf 30 Prozent zu erhöhen.

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Quelle:
SZ vom 15.04.2020
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