Am Anfang stand das Unbehagen darüber, dass ihr das längst vertraute Land wieder fremd werden soll. Ihr, der "Herkunftstürkin", der jüngere Aktivisten vorwarfen, sie übersehe schlicht den alltäglichen Rassismus, dem "People of Color", die PoC, also letztlich alle Minderheiten, in der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt seien. Canan Topçu, die Deutschland für ein überwiegend lebenswertes Land hält, hat ihre Verwirrung über diese "Desintegrationsdebatte" im September 2020 in einem Meinungsbeitrag für die Süddeutsche Zeitung formuliert. Sie kritisierte darin "oft elitäre Sprachcodes" einer jüngeren migrantischen Szene, die selbst Ausgrenzung betreibe, wo sie Teilhabe einfordere. Topçu brachte ihre Distanzierung von diesem Distanzdiskurs auf die griffige Formel: "Nicht mein Antirassismus".
Sie erzählt von sich als sprachlosem "Türkenkind"
Was als "Plädoyer für mehr Gelassenheit" in der hochkontroversen Identitätsdebatte gedacht war, sorgte wiederum für Erregung, die Journalistin und Literaturwissenschaftlerin bekam aber auch Zustimmung. Nun hat sie aus dem Gefühl, nicht wirklich verstanden worden zu sein, ein Buch gemacht. Es sei viel persönlicher geworden als zunächst gedacht, schreibt sie. Topçu taucht in ihre Lebensgeschichte ein, hat den Mut zu ehrlicher Selbsterforschung. Sie findet eigene Raster von Vor- und Schnellurteilen und fragt nach den Gründen. Das gibt ihrer Streitschrift Authentizität. Die Autorin hat eigene Diskriminierungserfahrungen und Verletzungen nicht vergessen, als sprachloses "Türkenkind", das niemand in der Turnmannschaft haben wollte. Sie erzählt von der Mutter, die zunächst allein nach Deutschland ging, Mann und drei Töchter zurückließ und bis zu ihrem Tod nie über das Erlebte sprechen wollte. Canan Topçu, war acht, als sie der Mutter nachreiste. Sie ist dankbar, dass die sich auf den Weg machte, "ganz ohne Vorbereitung auf das fremde Land". Ein QR-Code im Buch öffnet einen Youtube-Link zu einem populären türkischen Schlager aus der Zeit der Migration der Mutter: "Das Leben soll ein Fest sein." Mehr Hoffnung als Trübsinn, eher Traum als Traumata.
Topçu, Jahrgang 1965, fragt sich, ob sie neidisch ist auf eine jüngere Migrantengeneration, die sich traut, "so laut und unverschämt" aufzutreten, ob sich ihre Generation nicht viel mehr anstrengen musste, um akzeptiert zu werden. Und mehr anpassen. Die Autorin findet nicht auf alles Antworten. Was sie aber mit vielen der Jüngeren mit Zuwanderungsbiografie eint: Sie will nicht Opfer sein.
So war sie Mitgründerin der "Neuen Deutschen Medienmacher", die mehr Diversität in den Medien einfordern. Sie gibt Hochschulseminare, in denen Menschen mit Migrationsgeschichte ihre Erfahrungen austauschen. In ihrem Buch benennt sie Defizite im Bildungsbereich, wie sie jüngst eine Studie der Mercator-Stiftung bestätigte: In der Überarbeitung von Lehrplänen werden neuere "diversitätssensible" Konzepte kaum berücksichtigt. Obwohl in vielen Schulklassen diejenigen schon in der Mehrheit sind, die da aus eigener Erfahrung mitreden könnten - auch über Rassismus. Mehr Geld in der Lehreraus- und Fortbildung wäre gut investiert, folgert Topçu.
Wie spricht man Cem Özdemir richtig aus?
Ihr Buch wäre dafür keine schlechte Grundlage, denn unverdrossen macht sie sich dafür stark, eher Brücken zu schlagen als einzureißen, auch zu Menschen, die immer noch erstaunlich wenig wissen über die vielen Deutschen, deren Eltern und Großeltern nicht zwischen Bremen und Berchtesgaden geboren sind. Ohne Rassismus zu negieren und rassistische Gewalt zu verharmlosen - wie könnte das auch anders sein -, wirbt sie für das geduldige Einander-Zuhören und einen offenen Blick auf eine bereits ziemlich pluralistische Gesellschaft. Dass nun ein "Türkenkind" Bundesminister ist, konnte sie nicht wissen, als sie ihr Manuskript abschloss. Cem Özdemir, mit dem sie das Geburtsjahr teilt, musste dafür auch bei den "diversitätssensiblen" Grünen kämpfen. 60 Jahre nachdem Deutschland die ersten türkischen "Gäste" ins Land bat. Die Journalistin Ferda Ataman, jünger und ungeduldiger als Topçu, twitterte, "spätestens jetzt" sollten die "lieben Kolleg*innen" die Aussprache des Namens Özdemir endlich lernen: "Wenn ich noch einmal Tschem Ötsdemia höre, schmeiße ich meine Glotze aus dem Fenster!" Also Ataman: "Dschem Ösdemir, mit stimmhaftem 's' wie bei Sonne. Nicht schwer & respektvoll."
Bleibt eben doch noch was zu tun.