Rassismus:"Wir befinden uns in einer dramatischen Situation"

Rassismus: Fastenbrechen und Feiern im Münchner Luitpoldpark: Seit drei Jahren lädt der Muslimrat die Bürger der Stadt zur "Open Fair Iftar" ein.

Fastenbrechen und Feiern im Münchner Luitpoldpark: Seit drei Jahren lädt der Muslimrat die Bürger der Stadt zur "Open Fair Iftar" ein.

(Foto: Stephan Rumpf)
  • Seit mehreren Jahren steigt in Deutschland die Zahl rassistischer und antisemitischer Straftaten.
  • Allein in Ostdeutschland und Berlin wurden 2018 täglich mindestens fünf Menschen Opfer rassistischer Gewalt.
  • Opfer und Beratungsstellen sprechen von einer "dramatischen Situation".

Von Bernd Kastner

Die beiden waren sich nach einer Veranstaltung begegnet, eine ältere Frau und Halima Gutale. "Darf man heute noch Neger sagen?", habe die Seniorin sie gefragt, erzählt Gutale. Sie stammt aus Somalia, lebt seit gut zwei Jahrzehnten in Deutschland, in einer hessischen Kleinstadt. "Nein", hat Gutale der Seniorin geantwortet, "das darf man nicht mehr." Das Wort ist herabsetzend, aber sie hat der Frau die Frage nicht übel genommen. "Sie wollte nichts falsch machen."

Hamado Dipama spricht nur vom "N-Wort". Vor Kurzem hat er es wieder zu hören bekommen, in Nürnberg, abends auf der Straße, und es war nicht fragend gemeint. Ein junger Mann, erzählt Dipama, sei aus einem Auto ausgestiegen und habe ihn ohne Grund angepöbelt. Dipama stammt aus Burkina Faso, er kam 2002 als Flüchtling. Der Mann wäre fast handgreiflich geworden, wenn ihn seine Begleiter nicht zurückgehalten hätten. Dipama rief Polizisten herbei, die zufällig in der Nähe waren.

Seit mehreren Jahren steigt die Zahl rassistischer Vorfälle

Zeitlich und räumlich liegen diese beiden Begegnungen weit auseinander, und doch sind sie Teile eines großen Ganzen. Sie lassen ahnen, was Menschen erleben, die in den Augen anderer fremd sind. Es beginnt bei Unsicherheit, wie bei der alten Frau, und es geht über in Alltagsrassismus, in Beleidigungen, Diskriminierungen, bis hin zu Gewalt und Mord. Jetzt, da mit dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erstmals ein Politiker mutmaßlich von einem Rechtsextremisten getötet wurde, beschäftigt sich auch die Politik intensiver mit rechter Gewalt. Dabei geht unter, wie sehr auch Menschen, die nicht prominent sind, schon lange unter dem politischen Klimawandel leiden. "Mit Sorge beobachten wir eine Radikalisierung insbesondere rassistischer Ressentiments in weiten Teilen der Gesellschaft", vermeldete vor Kurzem die Antidiskriminierungsstelle des Bundes. "Seit mehreren Jahren verzeichnen die Statistiken Anstiege bei rassistischen Vorfällen." Unter der Überschrift "Hasskriminalität" vermeldete das Bundesinnenministerium für 2018 bei fremdenfeindlichen und antisemitischen Straftaten einen Anstieg um jeweils knapp 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Halima Gutale hat einen Verein zur Integration afrikanischer Flüchtlinge gegründet, sie kann von vielen verletzenden Begegnungen erzählen. Zum Beispiel, als sie vor der Schule auf ihre Tochter wartete, es war deren zweiter Tag auf dem Gymnasium. Ein Lehrer kam vorbei und erklärte der Mutter, die Hauptschule sei ein paar Meter weiter. Der Rat war ein Schlag: Einer dunkelhäutigen Frau hat der Mann offenbar nicht zugetraut, dass ihr Kind das Gymnasium besucht. Und dann sind da jene, sagt Gutale, die sie für ihr gutes Deutsch loben. Ein Kompliment? Für sie eher verletzend. Besonders dann, wenn sie weiß, dass sie gerade ein paar Fehler gemacht hat. Warum wird sie trotzdem gelobt? "Positiven Rassismus" nennt Gutale das.

Betroffene versuchen, die Attacken zu ignorieren

"Man erwartet jemanden, den man beschützen muss, dem man die Welt erklären muss", so beschreibt Gutale, was sie wahrnimmt als weitverbreitete Einstellung gegenüber "sichtbaren Migranten". Sie frage sich, ob "wir", also die hiesige Gesellschaft, wirklich so liberal und weltoffen sind, wie "wir" meinen. Bei ihr jedenfalls, einer somalischen Deutschen, komme oft diese Botschaft an: "Sei doch glücklich, dass wir dich aufgenommen haben. Wo bleibt die Dankbarkeit?"

Als sich im vergangenen Jahr im Netz der Hashtag MeTwo verbreitete, in Anlehnung an die MeToo-Debatte, schilderten unzählige Menschen ihr Erleben von Alltagsrassismus. Man kann das nachlesen, oder man hört Betroffenen zu. Alphonse Kabore aus Burkina Faso erzählt von einer Fahrt in einem Münchner Linienbus: "Geh weg, du Neger!" So habe ihn ein Fahrgast angegangen. Schwarze machten Deutschland kaputt, giftete der Mann. "Das tut weh", sagt Kabore, und dass er versuche, solche Attacken zu ignorieren. "Sonst hast du jeden Tag Probleme." Abdoul (er will nur seinen Vornamen nennen) aus Sierra Leone erzählt von einem früheren Nachbarn. Der habe ihn von seinem Balkon aus beschimpft, weil er als Flüchtling in einer Wohnung mit Balkon lebte. Der Mann habe ihm alles auch noch schriftlich gegeben, per Brief. So schlimm sei das geworden, erzählt Abdoul, dass er weggezogen ist.

Verharmlosung der NSU-Morde

Was übers Verbale hinausgeht, erfahren Mitarbeiter in den Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt. Christin Jänicke arbeitet in Potsdam für "Opferperspektive", die älteste derartige Einrichtung in Deutschland, gegründet 1998. Wenn jetzt, nach dem Mord an Lübcke, Politiker von einer "neuen Dimension" rechter Gewalt sprechen, dann ärgere sie das enorm. "Seit dreißig Jahren beobachten wir rechte Gewalt. Die Morde des NSU werden verharmlost, wenn jetzt von einer ,neuen Dimension' gesprochen wird." Laut einer Statistik des Dachverbands der Beratungsstellen wurden 2018 allein in Ostdeutschland und Berlin täglich mindestens fünf Menschen Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe. Für Westdeutschland gibt es keine aussagekräftigen Zahlen - weil es dort zu wenige Beratungsstellen gibt.

Jochen Kramer arbeitet in Stuttgart für die Beratungsstelle "Leuchtlinie", getragen von der Türkischen Gemeinde Baden-Württemberg. Er stellt eine weitverbreitete "Ideologie der Ungleichheit" fest. "Unsere Gesellschaft ist durchzogen von Rassismus." Dann erzählt er eine alltägliche Begebenheit: Ein Deutscher steht abends an einer S-Bahnstation, zwei junge, dunkelhäutige Männer kommen hinzu, dem Deutschen ist unwohl, er schaut sich um, ob noch jemand anderes da ist, um notfalls zu helfen. Jochen Kramer erzählt von - Jochen Kramer. Ja, auch er selbst sei nicht frei von Vorurteilen und Ängsten vor jenen, die man schnell als fremd und deshalb bedrohlich einstufe.

Selbst Kinder werden Opfer

Zu den Opfern von Rassismus und Gewalt zählen Politiker und Ehrenamtliche, die wegen ihres politischen Engagements attackiert werden. Gefährdet sind Journalisten und Wissenschaftler, Obdachlose, Sinti und Roma, Homosexuelle, Flüchtlinge, Migranten, Juden und Muslime. Vor allem dann, wenn sie "sichtbar" sind. Nina Mühe ist Deutsche und Muslima. Sie ist 2001 konvertiert, trägt Kopftuch und arbeitet daran, Organisationen zu vernetzen, die gegen antimuslimischen Rassismus angehen. "Die Hemmschwellen sinken", lautet ihre Diagnose. Zuletzt seien mehrfach sogar muslimische Kinder angegriffen worden. Solche Taten träfen die ganze Community. Sie verbreiteten Angst auch unter denen, die selbst nicht Opfer wurden. In Berlin, berichtet Mühe, überlegen sich viele Muslime, in welchem Stadtteil sie leben können: "Ist das eine Gegend, wo ich mich sicher fühlen kann?" Kreuzberg sei ein guter Ort, weil dort Vielfalt gelebt werde. Es gebe aber auch Viertel, in denen Kopftuchträgerinnen bedroht würden.

Wenn Mühe vom Alltag als "sichtbare Muslima" erzählt, dann kommt sie bald auf den Nährboden zu sprechen, den Politiker und der Staat Menschenfeinden mitunter bereiteten. Berlin etwa verbiete es muslimischen Lehrerinnen nach wie vor, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. "Das empfinde ich als extrem diskriminierend", sagt Mühe, es treffe indirekt alle Muslime und vermittle einen fatalen Eindruck: Es ist in Ordnung, etwas gegen Kopftuchträgerinnen zu haben. Und da sind Sätze wie die von Bundesinnenminister Horst Seehofer, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre und die Migration die "Mutter aller Probleme" sei. Gift für die Gesellschaft.

Verfahren werden oft eingestellt

Zugleich sei auffällig, dass viele Muslime Diskriminierung nicht groß thematisieren. "Es ist etwas, was man fast schon als normal empfindet", sagt Mühe. Sie und ihre Kollegen halten dagegen: Nein, es ist nicht normal! Und bitte meldet jede Attacke. Nur wenn ein rassistischer Vorfall von Polizei oder Beratungsstellen registriert wird, fließe er in die Statistiken ein. Bleiben diese Zahlen jedoch niedrig, sehe die Politik keinen Anlass gegenzusteuern.

Hamado Dipama, der in Nürnberg auf der Straße attackiert wurde, hat Anzeige erstattet wegen Beleidigung. Wenige Wochen später stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Der Beschuldigte habe abgestritten, "Negro" gesagt zu haben, es stehe Aussage gegen Aussage. Solche Einstellungen, sagt Dipama, seien der Grund dafür, dass viele Opfer sich nicht die Mühe machten, einen Übergriff anzuzeigen. Bringt eh nichts. Dipama wünscht sich mehr Engagement seitens der Behörden. "Die", sagt Dipama und meint die Rassisten, "die trauen sich jetzt vieles zu sagen, was sie vor fünf Jahren noch nicht gesagt haben." Das verbreite Angst, auch unter jenen Migranten, die sich gesellschaftlich engagieren. Manche trauten sich jetzt nachts nicht mehr in bestimmte Straßen. "Wir müssen wissen, dass wir uns in einer dramatischen Situation befinden."

Zur SZ-Startseite
Aborigines in Australien

SZ PlusZwangsadoptionen in Australien
:Gestohlene Generation

In Australien sind nicht nur die von 1910 bis 1970 aus ihren Familien gerissenen Aborigines traumatisiert. Auch ihre Nachkommen leiden bis heute unter den Folgen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: