Süddeutsche Zeitung

Raketeneinschlag in Polen:Kollateralschaden mit hohem Risiko

Auch wenn Russland wahrscheinlich keine Rakete auf Polen abgefeuert hat, macht Kiew Moskau verantwortlich für den Zwischenfall. In der Ukraine wurde durch den Raketenbeschuss die Energie-Infrastruktur massiv beschädigt.

Von Nicolas Freund und Frank Nienhuysen

Am Dienstag schrillten in der gesamten Ukraine die Sirenen. Die russische Armee hatte einen der größten Angriffe seit Kriegsbeginn gestartet. Laut dem ukrainischen Generalstab wurden mehr als 90 Marschflugkörper von Schiffen im Schwarzen Meer und von Russland aus auf die Ukraine abgefeuert. Auch zehn Schahed-136-Drohnen sollen im Einsatz gewesen sein. Das Ziel war erneut die zivile Infrastruktur im ganzen Land.

Explosionen wurden aus der Hauptstadt Kiew, aus Charkiw, Odessa, Lwiw und anderen Ballungszentren gemeldet. In Kiew soll auch ein Wohnhaus getroffen worden sein, Bilder zeigten die Feuerwehr bei Löscharbeiten. In vielen Teilen des Landes fiel als Folge der Angriffe erneut der Strom aus. Laut dem ukrainischen Generalstab konnten 73 Raketen sowie alle Drohnen abgefangen werden, die schlimmsten Schäden wurden also womöglich von der ukrainischen Flugabwehr verhindert.

Am Abend wurde bekannt, dass wohl eine Rakete die Grenze zu Polen überflogen und in dem Dorf Przewodów eingeschlagen ist, wobei zwei Menschen getötet wurden. Zunächst wurde von einer womöglich fehlgeleiteten russischen Rakete ausgegangen, dann hieß es von den Amerikanern, es könne sich auch um eine ukrainische Flugabwehrrakete gehandelt haben.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij legte sich noch am Dienstagabend schnell fest, dass es russische Raketen gewesen seien, die das polnische Dorf und damit das Gebiet der Nato getroffen haben. Er sprach von einer gravierenden Eskalation der Lage: "Es besteht Handlungsbedarf", sagte Selenskij. Wie oft habe die Ukraine schon gesagt, dass "der terroristische Staat sich nicht auf unser Land beschränken wird?"

Kiew fordert umgehend eine Flugverbotszone und Kampfjets

Noch während die polnische Regierung sich am Dienstagabend wegen der unklaren Lage zurückhaltend äußerte, verband Kiew den Einschlag mit der Forderung einer Flugverbotszone und der Lieferung von Luftabwehrsystemen sowie Kampfjets der Typen F-15 und F-16. "Schutz für den Himmel der Ukraine bedeutet heute auch Schutz für die Nato", schrieb der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter.

Eine Flugverbotszone über der Ukraine lehnt die Nato allerdings ab, weil dies die Gefahr maßgeblich erhöhen würde, dass die Allianz direkt in einen Krieg mit Russland hineingezogen wird.

Erst kurz vor Mitternacht klang Präsident Selenskij etwas zurückhaltender, da hatte er gerade mit seinem polnischen Kollegen Andrzej Duda telefoniert. "Wir haben alle verfügbaren Informationen ausgetauscht und klären alle Fakten", twitterte er.

Dass der US-Präsident Joe Biden inzwischen erklärte hatte, die in Polen eingeschlagene Rakete sei vermutlich nicht von Russland aus abgefeuert worden, ändert für Selenskijs Berater Mychajlo Podoljak nichts an der Verantwortung Russlands. Die Logik sei, dass Russland den Krieg begonnen habe und die Ukraine massiv mit Marschflugkörpern angreife, vor allem auch an diesem Dienstag. Russland habe den östlichen Teil Europas in ein unberechenbares Schlachtfeld verwandelt, erklärte er. Und so seien auch Zwischenfälle mit Raketen zu erklären. Der Chef des ukrainischen Sicherheitsrats, Oleksii Danilow, sprach sich am Mittwoch dafür aus, gemeinsam mit den Partnern der Ukraine die Ursache der Explosionen in Polen zu untersuchen. Die Ukraine sei bereits, "Indizien für eine russische Spur" zu übergeben, berichtete Kyiv Independent.

Die russischen Angriffe vom Dienstag hatten indessen auch in anderen an die Ukraine angrenzenden Ländern Konsequenzen. So fiel auch in der Republik Moldau teilweise der Strom aus. Selenskij erklärte, wegen der Raketenangriffe hätten zwei Kernkraftwerke abgeschaltet werden müssen. "Das sind kalkulierte Konsequenzen, und der Feind wusste genau, was er tat", so Selenskij.

Vor allem waren die Folgen des russischen Raketenhagels in der Ukraine spürbar. Allein die Behörden im Gebiet von Lwiw im Westen der Ukraine erklärten am Mittwochmorgen, dass drei Objekte der Energie-Infrastruktur getroffen worden seien. Zwei Millionen Menschen seien ohne Strom gewesen. Bei vielen sei der Anschluss zwar wieder gelungen, doch die Situation sei kritisch, hieß es in der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian. Es gebe immer noch Einschränkungen. Der Bürgermeister von Lwiw, Andrij Sadowyj, sagte, dass die Stromversorgung in der Stadt selber weitgehend wieder funktioniere, 70 Prozent aller Ampeln aber fielen immer noch aus.

Laut dem stellvertretenden Leiter des ukrainischen Präsidialamtes werde derzeit versucht, das Netz zu stabilisieren. Inzwischen sei unter anderem in Kiew die Strom- und Wasserversorgung wiederhergestellt.

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