Zum Tod von Mossad-Agent Rafael Eitan:"Ich habe nie das Gefühl gehabt, Rache zu nehmen"

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Rafael "Rafi" Eitan (Foto: AFP)

Rafael Eitan plante die Entführung Adolf Eichmanns, um ihn wegen des Massenmordes an den Juden in Israel vor Gericht zu stellen. 2011 sprach die SZ mit Eitan. Anlässlich seines Todes gibt es den Text hier noch einmal zu lesen.

Interview von Joachim Käppner, Tel Aviv

Rafi Eitan wurde 1926 im Kibbuz Ein Harod geboren. Seine Eltern, russische Juden, waren drei Jahre zuvor nach Palästina eingewandert. Er diente in der Hagana, dem Vorläufer der israelischen Armee, und in der Eliteeinheit Palmach. Vom Nachrichtendienst der Armee ging er zum Inlandsgeheimdienst Shin Bet. 1960 leitete er das Kommando des Auslandsgeheimdienstes Mossad, das Adolf Eichmann, den Cheforganisator des Holocaust, aus Argentinien entführte. Vor Kurzem ist Eitan im Alter von 92 Jahren gestorben.

2011 traf SZ-Autor Joachim Käppner Eitan zum Interview in Tel Aviv. Der frühere Mossad-Agent saß hinter der israelischen Flagge an einem Schreibtisch. Der stand in einem Büro in einem Gebäude, das durch unauffällige Wächter und Kameras abgeschirmt war; offiziell wurde von dort aus der israelische Premierminister beraten. In der Ferne schimmerte das Meer.

SZ: Herr Eitan, am 11. April vor 50 Jahren stand Adolf Eichmann erstmals vor seinen Richtern in Jerusalem. Sie waren im Gerichtssaal, Sie waren der Mann, der ihn dort hingebracht hatte: Was fühlten Sie?

Rafi Eitan: Das ist nicht leicht zu beschreiben. Ich bin kein Schriftsteller, ich eigne mich schlecht als Dichter. Aber meine Kollegen, mit denen ich Eichmann gefasst hatte, und ich spürten eines ganz genau: Wir nahmen an einer historischen Stunde teil. Wir hatten Eichmann gefangen, ihn von so weit her nach Israel gebracht - und das wenige Jahre nach dem Krieg und dem Holocaust. Wir sahen all die Überlebenden; und erstmals berichteten sie vor der ganzen Welt ihre Geschichte. Das war für viele von uns, auch in Israel, völlig neu. Diese Zeugen erzählten von einer anderen Welt, die Auschwitz hieß. Es hat mich sehr bewegt.

Israel
:Eichmann-Jäger Rafi Eitan gestorben

Der Mossad-Agent leitete die Truppe, die den Organisator der Judenvernichtung im Jahr 1960 aus Argentinien entführte. Israels Ministerpräsident würdigt Eitan als "einen Helden".

Ihre eigene Familie war nicht vom Holocaust betroffen.

Nein, meine direkte Familie nicht. Sie kam schon in den zwanziger Jahren nach Palästina. Aber bei den Mitgliedern meines Teams war das anders. Die meisten von ihnen waren Holocaust-Überlebende.

Und wie ging es Ihnen allen, als Sie Eichmann vor Gericht gebracht hatten? War es das Gefühl, Rache zu nehmen, oder eher: Gerechtigkeit zu üben?

Ich habe nie das Gefühl gehabt, Rache zu nehmen. Wie sollte man auch rächen, was die Nazis getan hatten? Es ging nicht um Rache. Vielleicht könnte man von Vergeltung sprechen - aber nur in dem Sinne, dass Eichmann für seine Verbrechen büßen musste, dass an ihm, der keine Gerechtigkeit gekannt hatte, nun Gerechtigkeit geübt wurde.

Wann haben Sie den Namen Eichmann zum ersten Mal gehört?

Ich glaube, das war schon 1944. Gegen Ende des Krieges war er schon in der ganzen jüdischen Welt bekannt - sein Name und der des berüchtigten "KZ-Arztes" Josef Mengele. Diese beiden Namen vor allem standen für den Horror des Mordes an den Juden.

Wann ist beim Mossad der Plan entstanden, Eichmann zu fassen?

Es war Nazijäger Simon Wiesenthal aus Österreich, der uns die Information gab, dass sich Eichmann in Argentinien versteckt halte - das war schon 1953. Wiesenthal hat uns sehr geholfen, ebenso später der deutsche Staatsanwalt Fritz Bauer. Aber damals waren Israels Geheimdienste noch sehr jung. Wir hatten weder die Zeit noch die Organisation, solche Operationen so weit außerhalb Israels zu starten. Es ging, nur vier Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg, um Leben oder Tod unseres Staates. Schon 1956 gab es den nächsten Krieg.

Was brachte Sie dann auf Eichmanns Spur?

1957 gab uns Ministerpräsident David Ben Gurion den Auftrag, einen der Hauptverantwortlichen für den Holocaust aufzuspüren. Damit fing alles an. Als wir den Auftrag bekamen, Naziverbrecher zu finden, hatte ich sieben Namen auf meinem Schreibtisch und Details zu jedem, unter anderen zu Mengele und Eichmann. Ich habe übrigens nicht gewusst, wer eigentlich Wiesenthals Quelle war, als er 1953 zu uns kam. Wir wussten keine Details, aber immerhin die Richtung.

Wie sind Sie dann vorgegangen?

Wir haben den Agenten Zwi Aharoni mit einem kleinen Team nach Argentinien geschickt; er hat seine Erlebnisse später in dem Buch "Der Jäger" festgehalten. Er rekrutierte dort einige Leute, die uns halfen. Aharoni fand schließlich heraus, wo Eichmann lebte und unter welchem Namen . . .

Ricardo Klement . . .

Ja, genau. Aharoni kam zurück nach Israel, und wir stellten das Team zusammen. Unser Boss bei dem Unternehmen war Mossad-Chef Isser Harel selbst. Ich leitete die Operationsabteilung, in Argentinien war ich daher, wie soll man sagen, der Feldkommandant. Ich bereitete auch das Flugzeug vor, das Eichmann schließlich aus seinem Fluchtland herausbrachte - denn das war ja die schwierigste Frage: Wie man ihn nach Israel schaffen könnte, ohne dass die argentinischen Behörden die Aktion bemerkten.

Gab es noch andere Pläne?

Ja, wir hatten einen Alternativplan - ihn irgendwo an der Küste auf ein israelisches Schiff zu bringen. Es fuhr einmal monatlich zwischen Haifa und Buenos Aires und transportierte gefrorenes Fleisch.

Wann haben Sie Adolf Eichmann zum ersten Mal gesehen?

Wir haben ihn vor dem Zugriff vier Tage lang überwacht. Damals sah ich ihn zum ersten Mal. Ich war zu 99 Prozent sicher: Das ist er.

Wiesenthal hatte Ihnen 1959 ein Foto von Eichmanns Bruder Otto zugespielt, der ihm sehr ähnlich sah.

Ja, wir hatten das Foto von Wiesenthal und ältere Fotos aus Eichmanns SS-Akten. So erkannten wir ihn.

Wie empfanden Sie Eichmanns Versteck? Er lebte ja sehr ärmlich.

Ich war sehr überrascht, dass er sich nicht besser verborgen hielt. Ich dachte, ein prominenter Nazi, der so viel jüdischen Besitz geraubt hatte, müsste reich sein. Er lebte mit seiner Familie ein sehr schlichtes Leben in einer besseren Hütte in der Garibaldistraße in Buenos Aires. Einstöckig, ohne Strom, in einer verlassenen Gegend.

Wie riskant war die Operation?

Sicher war sie riskant. Aber ein Geheimdienst muss mit solchen Risiken leben. Unsere größte Sorge waren nicht alte Nazis, die versuchen könnten, Eichmann zu schützen. Am meisten fürchteten wir, von der argentinischen Polizei gefasst zu werden. Das wäre das Ende der Operation gewesen, Eichmann wäre gewiss verschwunden; vom diplomatischen Debakel einmal zu schweigen.

Wussten die Argentinier, um wen es sich handelte?

So weit ich weiß, nicht. Ihre Sicherheitspolizei hatte sogar Akten über die Eichmanns, aber er lief unter Klement. Wir jedenfalls bereiteten das Team vor und übten verschiedene Varianten der Festnahme. Option eins: Wir fangen ihn nahe seiner Arbeitsstätte. Option zwei: Wir klopfen an seiner Tür und überwältigen ihn, wenn sich die Tür öffnet. Und drittens: Wir fangen ihn auf dem Weg zwischen Arbeit und dem Haus ab.

Sie haben sich für drei entschieden.

Ja. So konnten wir ihn überwältigen, ohne dass jemand aufmerksam werden würde. Ich flog also mit dem Team nach Argentinien. Die Vorbereitungen dauerten fast einen Monat. Wir mussten die sicheren Häuser finden, als Scheinmieter einziehen, Kaution bezahlen und so fort. Dann erwies sich als Problem, dass es damals in Argentinien gar nicht einfach war, Autos zu mieten. Autos waren noch nicht so verbreitet wie heute. Mietwagen kosteten sechsmal mehr als in Europa und waren sehr selten. Wir studierten die Stadt sehr genau, ihr Terrain, prüften alternative Fluchtrouten.

Und am 11. Mai 1960 waren wir so weit. Unser Team wartete mit dem Auto unweit seines Hauses. Der Bus, mit dem Eichmann heimkommen würde, stoppte normalerweise zwischen zwanzig nach sieben und halb acht am Abend. Wir sahen den Bus halten, aber Eichmann war nicht darin. Was sollten wir tun? Wir standen mit unserem Wagen sehr auffällig in einer verlassenen Gegend. Es gab ja nur drei Häuser in der Straße. Und unser Auto war das einzige Auto in der Gegend. Sollten wir abfahren oder bleiben?

Sie wollten nicht kurz vor dem Ziel aufgeben.

Die Gelegenheit war zu günstig. Ich entschied: Wir bleiben. Es wurden lange Minuten. Zum Glück kamen nur zwei Leute vorbei. Er kam dann erst gegen acht Uhr. Laut Plan sollte der Agent Zwika Malchin ihn etwas fragen: "Momentito, Señor . . ." Aber Zwika sprang ihn dann an, er und Eichmann fielen zu Boden. Ein weiterer Agent und ich kamen hinzu. Zu dritt packten wir Eichmann. Ich hielt den Kopf, Zwika die Beine, und so schafften wir ihn auf den Rücksitz des Wagens. Wir drei saßen hinten, und er lag quer über unseren Beinen. Da saß ich nun und hielt den Kopf eines Massenmörders auf meinen Knien . . . Aharoni fuhr, und ich warf ein Tuch über Eichmanns Kopf.

Und Sie waren sicher, den richtigen Mann zu haben.

Oh ja, ganz sicher. Auf seinem Bauch waren die Narben, von denen wir wussten. Es war Adolf Eichmann. Malchin und ich schüttelten uns die Hände - und dann fuhren wir in die Villa.

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:"Schrecklich und erschreckend normal"

Er selbst hat sich stets als ideologiefreien Schreibtischtäter dargestellt: Adolf Eichmann hat mit bürokratischer Akribie den Holocaust geplant. 1962 wurde er in Israel hingerichtet. Der Prozess gegen den Ex-Obersturmbannführer ist bis heute beispiellos.

Bildern.

Hat er sich gewehrt?

Am Anfang hat er geschrien, ganz laut geschrien. Aber das Ganze hat kaum eine halbe Minute gedauert, und der Motor übertönte seine Schreie. Dann war er still, sehr still.

Hat er sich zu erkennen gegeben?

Nein. Später hat er im Verhör gesagt: Ich war sicher, die Israelis haben mich geschnappt. Aber damals fragten wir ihn: Wie heißen Sie? Und er: Otto Heninger. Diesen Namen hatte er nach dem Krieg benutzt. Aber wir haben ihn nochmal gefragt. Und dann sagte er: Ricardo Klement! Aber als wir ihn nach seiner SS-Nummer fragten, hat er sie genannt und gesagt: Ich bin Adolf Eichmann. Aharoni hat ihn verhört. Wir wollten alles wissen über die Netzwerke der Ex-Nazis, was seine Familie nun tun würde, ob er wisse, wo Mengele sei . . .

Auch Mengele haben Sie gesucht.

Eichmann war unter den sieben Namen, die wir hatten, wegen seiner Funktion im NS-Staat der wichtigste. Wir waren auch Mengele auf der Spur. Aber zwei Operationen wären zu viel gewesen.

Haben Sie es nach Eichmann noch weiter versucht?

Ja. Aber wir hatten keinen Erfolg. Ende 1962 wussten wir, wo Josef Mengele lebte: In einer Vorstadt von São Paulo, in Brasilien. Aber 1963 wechselte die Spitze des Mossad. Isser Harel ging, sein Nachfolger war Meir Amit. Harel war Zivilist, Amit ein Ex-General. Für ihn war das eigentliche Ziel des Mossad, militärische Informationen über die Feinde Israels zu beschaffen - über die arabischen Nachbarstaaten, die uns bedrohten. Statt Mengele zu jagen, beschafften wir Militärgeheimnisse unserer Feinde.

Haben Sie das bedauert?

Ach. Vielleicht. Wir hätten Mengele wirklich schnappen können. Aber das Leben war nicht so. Damals waren wir so beansprucht. Die arabischen Armeen rüsteten auf, es war die Zeit vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967.

Sind Sie 1961 oft zum Prozess gegangen?

Sehr oft. Ich habe Eichmann sogar in seiner Zelle besucht. Das war mit einem der Untersuchungsbeamten. Ich fragte ihn danach, wie sie damals ihre SS-Offiziere ausgesucht und trainiert hatten - weil wir verstehen wollten, wie das deutsche System funktioniert hatte. Wie sie führende Leute fanden, die dann solche entsetzlichen Verbrechen begingen. Männer wie Eichmann, dessen Persönlichkeit ich begreifen wollte.

Ist es Ihnen gelungen?

Ich fand zumindest etwas sehr Interessantes. Er las nicht. Keine Bücher. Ich hatte, als ich klein war, viele Kinderbücher gelesen, berühmte und unbekannte, sie waren wie eine eigene Welt. Er hatte das nicht getan. Es gab eine Leere in ihm.

Waren Sie überrascht, dass er so gewöhnlich wirkte, nicht wie ein Monster? Hannah Arendt hat von der Banalität des Bösen gesprochen, die er verkörpere.

Nein, ich war nicht überrascht. Ich hatte doch, bevor wir ihn gefangen nahmen, seine Personalakten gelesen. Die SS hat ihn darin sehr präzise beschrieben. Hannah Arendt trifft es, wenn sie ihn als autoritätshörigen Menschen bezeichnet. Das Böse aber wird von den Menschen getan, und es ist ihre freie Entscheidung, wie sie handeln, ob gut oder böse.

Auch Eichmann hatte die Wahl.

Vielleicht hätte sich sogar Eichmann, wäre er anders, besser erzogen worden, später ganz anders verhalten. Schauen wir nur, wie brutal Gaddafi und seine Leute sind. Und vergleichen wir sie mit den Soldaten und Offizieren in Ägypten. Sie haben nicht auf das Volk geschossen. Sie hatten die Wahl und verhielten sich menschlich. Das ist der Unterschied.

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