RAF-Desaster in Bad Kleinen:Erschütternder Einsatz

20 Jahre Bad Kleinen

Spurensuche auf den Gleisen: Polizeibeamte am 2. Juli 1993 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen.

(Foto: dpa)

Es endete im Kugelhagel: Der Zugriff auf RAF-Terroristen am Bahnhof der mecklenburgischen Stadt Bad Kleinen vor 20 Jahren geriet zu einem der größten Desaster der deutschen Fahndungsgeschichte. Das Gerücht vom Staatsmord an Wolfgang Grams spukt immer noch durch das Land.

Von Heribert Prantl

Ein Jahr vor Bad Kleinen hatte die RAF in einem fünfseitigen Brief ihre Lage selbstkritisch beschrieben: "Wir haben aus verschiedensten Gründen keine Anziehungskraft mehr für die Menschen entwickelt". Die terroristische Rote Armee Fraktion war seit Jahren isoliert; ein nennenswertes sympathisierendes RAF-Umfeld gab es nicht mehr; Flugblätter, die nach Attentaten "klammheimliche Freude" empfanden, mussten nicht mehr von Staatsschutz und Polizei beschlagnahmt werden - und zwar deshalb, weil sie, anders als früher, keiner mehr schrieb.

In die Isolation gebombt

Die intellektuelle Aufwertung terroristischer Gewalt war Vergangenheit. Kein Politikwissenschaftler vermochte mehr aus dem verbrecherischen Aktionismus auch nur Spurenelemente eines Sinns zu destillieren. Die RAF hatte sich mit ihren blutigen Verbrechen eigenhändig in die Isolation gebombt. Der Sprengstoffanschlag auf die neue, noch nicht in Betrieb genommene Justizvollzugsanstalt im hessischen Weiterstadt im März 1993 sollte eine Demonstration fortbestehender Schlagkraft eines kleinen Kommandos sein. Der Anschlag diente der Aktivierung der wenigen verbliebenen Unterstützer und war der Versuch, die eigene Isolation aufzubrechen: mit einer demonstrativen Abkehr von der Gewalt gegen Personen hin zur Gewalt gegen Sachen. Die RAF brauchte ein neues Image. Man sprengte das leere Gefängnis.

Dann kam, drei Monate später, Bad Kleinen. Bad Kleinen war, wenn man das Desaster böse interpretiert, der letzte Erfolg der RAF: Das Festnahme-Fiasko gab dem Linksterrorismus die Chance, die angebliche Ermordung des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams durch den Staat in ihre Propaganda einer "staatlichen Vernichtungsstrategie" einzubetten. Ohne Bad Kleinen wäre der Auflösungsprozess der RAF noch schneller verlaufen, der von da an noch fünf Jahre, bis zum 20. April 1998 dauert: An diesem Tag ging bei der Nachrichtenagentur Reuters ein Brief ein, der mit den Zeilen begann: "Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte".

Ungeheure Fehler

Bilanz dieses "Projekts": "67 Tote und 230 oftmals schwer verletzte Menschen auf beiden Seiten. Fünfhundert Millionen Mark Sachschaden. 104 von der Polizei entdeckte konspirative Wohnungen, 180 gestohlene PKW, über eine halbe Million Asservate - Geld, Waffen, Sprengstoff, Ausweise. Elf Millionen Blatt Ermittlungsakten, 517 Personen verurteilt wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, 914 verurteilt wegen deren Unterstützung". Dies war das Resümee des legendären Horst Herold, der von 1971 bis 1981 Chef des Bundeskriminalamts war, in einem Aufsatz von 2000 für die Süddeutsche Zeitung.

Bad Kleinen hätte ein Triumph der Terrorfahndung werden sollen - und wurde zu einem Fiasko: Wegen ungeheuerlicher Fehler bei dem Zugriff auf die Terroristen und bei der Spurensicherung konnte sich die Fama entwickeln, die Polizei habe das RAF-Mitglied Wolfgang Grams mit einem aufgesetzten Schuss exekutiert. Die RAF setzte einige Hoffnungen auf eine Resonanz auf die angebliche Ermordung von Grams in linksextremen Kreisen.

Kugelhagel statt Erfolg

Bad Kleinen: Die Terrorfahnder wollten den ganz großen, den finalen Schlag gegen die RAF führen, die Verhaftung von zentralen Figuren. Klaus Steinmetz, ein V-Mann des Verfassungsschutzes, hatte sich bis ins unmittelbare Umfeld der Terroristen vorgearbeitet; das war eine Sensation, da so etwas 23 Jahre lang nicht geklappt hatte. Steinmetz hatte 1992 in Paris Birgit Hogefeld kennengelernt, die in Frankfurt Jura studiert und zeitweise als Orgellehrerin gearbeitet hatte; 1984 war sie in den Untergrund abgetaucht; sie wurde wegen mutmaßlicher Beteiligung an Anschlägen gesucht, war angeblich auch an der Weiterstadt-Sprengung beteiligt.

Notwendiger Fahndungserfolg

Der V-Mann Steinmetz sollte nun zur verdeckten Beobachtung und zum Zugriff auf Topleute der RAF genutzt werden. In und um Bad Kleinen standen zwei Einsatzgruppen des BKA bereit, die den Namen "Weinlese" und "Ort " trugen. Die erste Einsatzgruppe bestand, wie Wilhelm Dietl in seinem Werk "Die BKA-Story" berichtet, aus 97 Mann, 38 von ihnen zählten zum Mobilen Einsatzkommando, sie durften den V-Mann und seine Kontaktpersonen nicht aus den Augen verlieren. Der Rest kam vom Grenzschutz, 37 davon aus der Elitetruppe GSG 9. Der V-Mann Steinmetz trug einen Peilsender in einem Laptop bei sich.

20 Jahre Bad Kleinen

Der RAF-Terrorist Wolfgang Grams liegt tödlich getroffen am Gleis 4 des Bahnhofs von Bad Kleinen.

(Foto: dpa)

Ein Fahndungserfolg war bitter notwendig: Kein einziger der Terroranschläge seit 1985 war aufgeklärt worden. Nicht der Mord am Manager Ernst Zimmermann, nicht der am Siemens-Vorstand Karl-Heinz Beckurts, nicht der am Spitzenbeamten Gerold von Braunmühl, nicht der am Bankvorstand Alfred Herrhausen, nicht der an Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder. Horst Herold warf seinen Nachfolgern im BKA vor, dass sie die RAF "vom Radarschirm verloren" hätten.

Der Zugriff auf die RAF-Mitglieder Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams (eigentlich waren noch weitere Terroristen erwartet worden) am 27. Juni 1993 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen entwickelte sich zum Desaster: Funksprüche mit den Einsatzbefehlen kamen verstümmelt an, der Einsatz geriet außer Kontrolle. Zwar konnte Hogefeld rasch verhaftet werden, Grams eröffnete aber das Feuer, es kam zu einem wilden Schusswechsel, Grams traf seinen nächsten Verfolger, den Polizeikommissar Michael Newrzella viermal, tödlich. Grams selbst wurde von 33 Schüssen 15 mal getroffen. Er starb.

These vom Staatsmord

Die Aktion endete nicht nur im Kugelhagel, sondern auch in Spekulationen darüber, ob nicht ein Mann der GSG 9 Grams durch einen an der Schläfe aufgesetzten Schuss getötet habe; genährt wurden solche Spekulationen durch Zeugenaussagen, Gutachten und vor allem durch Dilettantismus bei der Spurensicherung und Vertuschungsaktionen der Sicherheitskräfte, denen daran gelegen war, dass der V-Mann Steinmetz nirgendwo auftauchte. Die These vom Staatsmord an Grams war vor allem vom Fernsehmagazin Monitor und vom Spiegel verbreitet worden. Dieser Verdacht ist zwar mittlerweile ausgeräumt - Grams hat sich in aussichtsloser Situation selbst erschossen -, gleichwohl bleibt Bad Kleinen eine der verheerendsten Pannen der deutschen Fahndungsgeschichte. Der Bericht der Bundesregierung dazu führt 17 gravierende Fehlleistungen auf. Selbst den ermittelnden Staatsanwälten war es anfangs schwer gefallen, an einen Selbstmord von Grams zu glauben. Überall waren sie auf merkwürdigste Pannen gestoßen. Beispielsweise waren dem toten Grams die Finger gewaschen worden, sodass Blut- und sonstige Spuren nicht mehr auswertbar waren.

Das BKA verlor seinen Nimbus. Die GSG 9 wäre ums Haar aufgelöst worden. Bundesinnenminister Rudolf Seiters trat zurück. Generalbundesanwalt Alexander von Stahl wurde in den Ruhestand versetzt. BKA-Präsident Zachert, zur Zeit von Bad Kleinen auf Kur, blieb vorläufig, aber entmachtet, im Amt; er trat 1996 zurück. Birgit Hogefeld wurde 1996 zu lebenslanger Haft verurteilt und 2011 aus dieser Haft entlassen. Die genauen Umstände des Todes von Grams sind bis heute nicht restlos geklärt. Die Fama vom Staatsmord an Wolfgang Grams spukt immer noch.

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