Süddeutsche Zeitung

Radikalisierung Jugendlicher:"Nicht weil sie arm, sondern weil sie sauer sind"

Wie erreicht man Jugendliche, die sich Terrorgruppen anschließen wollen? Aktivisten aus 45 Ländern berichten auf der Konferenz "Global Youth Summit" von ihren Versuchen.

Von Hakan Tanriverdi, New York

Yousef Assidiq wurde von einem Islamisten umarmt, vom Rest der Gesellschaft in Norwegen verachtet. So fasst er die Geschichte seiner Radikalisierung zusammen. Er ist Gast auf dem Global Youth Summit, einer Konferenz in New York. Assidiq ist einer von mehr als 100 Aktivisten, die hier darüber berichten, wie sie junge Menschen davon abbringen, sich Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat (IS) oder gewalttätigen Gangs anzuschließen.

"Eine Woche nachdem ich zum Islam konvertierte, war ich alleine, verstoßen von meinen Freunden und Eltern", sagt Assidiq. Eine ältere Dame habe ihn während einer Busfahrt beschimpft, 2009 war das, die übrigen Passagiere hätten applaudiert. Der Islamist dagegen habe ihm zugehört - und ihn anschließend fanatisieren können. "Ich weiß, wie es ist, Teil einer radikalen Gruppe zu sein. Ich weiß auch, wie man es schafft, sie wieder zu verlassen", sagt der 27-jährige mit dem Rauschebart.

Insgesamt sind Menschen aus mehr als 45 Ländern anwesend, auch aus Somalia, den Philippinen, Kamerun und Nigeria. Assidiq und seine Organisation haben nach eigenen Angaben 30 Menschen davon abhalten können, ins Ausland zu reisen. Assidiq habe durch seine persönliche Geschichte einen Zugang zu den Leuten finden können. "Diese Menschen fühlen sich einsam, außen vor gelassen. Solange wir das nicht ernst nehmen, gibt es keinen Weg, ihnen zu helfen", sagt er.

Die Führungsebene ist höher gebildet

Auch aus Deutschland sind Experten dabei, zum Beispiel Claudia Dantschke. Sie berät Familien, bei denen Gefahr besteht, dass das Kind sich auf den Weg in den Krieg macht. Dantschke selbst hält keinen Vortrag, sie ist hier, um von dem Wissen der anderen Gruppen zu profitieren. Es sollen nicht nur die Frage beantwortet werden, woher die Sympathie für radikale Ideologien kommt, sondern wie man diese kontern kann.

Die Vorstellung, dass Extremismus vor allem mit Armut zusammenhängt, wird in diesen Räumen weitgehend abgelehnt. "Menschen treten nicht radikalen Gruppen bei, weil sie arm, sondern weil sie sauer sind", sagt Shamil Idriss von der gemeinnützigen Organisation Search for Common Ground. Es stimme zwar, dass Extremistengruppen Erfolg damit hätten, Arme und Ungebildete als Soldaten zu rekrutieren, indem sie ihnen eine Existenz schaffen. Doch das sei nur ein Teil, die Führungsebene habe höhere Bildungsgrade.

Erst kürzlich wurde der typische IS-Kämpfer aus Deutschland analysiert. Ein Ergebnis: Auffallend viele sind gut gebildet. Um radikalisiert werden zu können, brauche es eher das Gefühl, von anderen Menschen erniedrigt zu werden, sagt Idriss.

Die Situation im Bus mit der alten Dame und den klatschenden Mitfahrern war für Assidiq so eine Erniedrigung. "Das war der Moment, in dem ich mich am einsamsten gefühlt habe", sagt er. Er habe das Gefühl gehabt, nicht zu einer neuen Religion zu konvertieren, sondern sich aus einer Gesellschaft herauszukatapultieren. Er habe einen Freund gebraucht in dieser Zeit und der Islamist sei einer gewesen. Dass dieser ein Fanatiker war, stand dabei außer Frage. Sein Facebook-Profilfoto zeigte das Attentat auf das World Trade Center. "Mir war vollkommen egal, was der Typ gepredigt hat." Die Gruppe, der sich Assidiq anschloss, heißt "Prophet's Umma" (Gemeinschaft des Propheten). Sie orientierte sich damals an den Lehren von al-Kaida, heute feiert sie den IS.

Der Norweger rekrutierte nicht nur selbst weitere Anhänger, seine Geschichte wurde auch als Paradebeispiel eingesetzt, um weitere Jugendliche zu gewinnen. Man sei damit an jene herangetreten, die noch unsicher waren. Die sich noch gefragt haben, ob sie vielleicht wegen ihrer Hautfarbe (gefühlt) abgelehnt werden oder aufgrund ihrer Herkunft. "Dann haben sie auf mich gezeigt und gesagt: Das einzige, was sich bei Youssef geändert hat, ist seine Religion."

Wie kann man es schaffen, in die Köpfe und Gemeinden der Menschen zu kommen, aus denen Terroristen und Gang-Mitglieder rekrutiert werden? Die Aktivisten haben eine Agenda veröffentlicht. Auf vier Seiten schildern sie: Aktuelle Erkenntnisse über gewalttätigen Extremismus, wie man diesem entgegenwirken kann und welche Rolle dabei Regierung und Zivilgesellschaft spielen können.

Es zahle sich aus, den Weg über bereits anerkannte Größen zu nehmen, Respektpersonen also. Die Hierarchie zu verstehen, sei wichtig, ebenfalls über ausreichend Ausdauer zu verfügen. Man müsse sicherstellen, dass das eigene Schaffen bereits abgesegnet ist, sagt eine der Aktivistinnen. Ihr sei einmal ein Schaf als Geschenk gegeben worden. Ihre Reaktion: Schlachten und gemeinsam essen.

"Wenn wir über Frieden reden, dann immer mit den Anführern eines Clans"

Um Extremismus zu bekämpfen, sei es besonders wichtig, Entweder-Oder-Szenarien zu vermeiden. Das Schaffen von positiven Geschichten, von Bezugspersonen, die als Vorbild dienen können, sei elementar. Solche Bezugspersonen können auch Ex-Fanatiker sein, die nun ihr Geschichten erzählen können und damit anderen Jugendlichen zeigen, dass es anders gehen kann.

Ilwad Elman ist in Somalia geboren, musste Ende der Neunziger Jahre nach Kanada flüchten. Sie entschied sich 2010 dazu, nach Somalia zurückzukehren und für die Nichtregierungsorganisation (NGO) Elman Peace and Human Rights Center zu arbeiten und die Rekrutierungsversuche der al-Shabab-Terroristen zu verhindern. Die NGO ist benannt nach ihrem Vater, einem Friedensaktivisten, der ermordet wurde. Elman sieht ebenfalls die Notwendigkeit, Menschen anzusprechen, die in der Gemeinde eine besondere Position einnehmen: "Wenn wir über Frieden reden, dann immer mit den Anführern eines Clans, mit religiösen Figuren. Aber am Entscheidungstisch fehlen oft jene Leute, die ausgebeutet und losgeschickt wurden, um zu kämpfen." Diese Menschen spreche man an und versuche, an sie heranzukommen.

In fünf Jahren sei es so gelungen, 2500 Menschen zu erreichen. Auf diese Art sei ein Untergrund-Netzwerk entstanden, durch weitere Zwangssoldaten herauszuschmuggele. Die 2500 Menschen haben, so Elman, ihre eigene Stimme gefunden, um an die Jugendlichen heranzutreten. Ihre persönliche Geschichte sei ihr bestes Argument. Die NGO unterstützt mit Expertise und finanziellen Mitteln. Ziel sei eine soziale und religiöse Rehabilitation. "Diese Menschen brauchen jemanden, den sie als Mentor begreifen können".

Assidiq verließ der Glaube an die Radikalität während einer Demonstration. 2010 druckte die norwegische Tageszeitung Aftenposten Karikaturen des islamischen Propheten Mohammed nach. Die Gruppe von Assidiq rief zu einer Demonstration auf. 3500 Menschen kamen. Der radikale Prediger, sein damaliger Freund, habe gesagt, dass es nun an der Zeit sei, einen Anschlag in der Größenordnung des elften September durchzuführen, sofern norwegische Soldaten nicht aus Irak und Afghanistan abgezogen würden. "Meine Mutter lief an dieser Demonstration vorbei. Ich schaute ihr in die Augen und wusste: entweder sie oder wir". Er verließ die Gruppe. "Dass meine Mutter vorbeilief, war purer Zufall."

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