Süddeutsche Zeitung

Radikalisierung am Rand Europas:Verliebt in den Islam

In der spanischen Exklave Melilla in Nordafrika haben islamistische Seelenfänger leichtes Spiel. Viele Jugendliche haben keine Perspektive, aber einen Traum: einer internationalen Avantgarde anzugehören.

Gastbeitrag von Ana Carbajosa, El País

Bärte und Schleier breiten sich in der Stadtlandschaft von Melilla immer stärker aus. Die Ultras, die einen anachronistischen und rigorosen Islam predigen, sind zwar noch eine Minderheit, aber sie verfügen über hohe Anziehungskraft. Religion ist in Mode bei Jugendlichen, sie sind fasziniert von dem Gedanken, einer internationalen Avantgarde anzugehören, die weite Schichten der muslimischen Welt verführt. Im verarmten und marginalisierten Teil Melillas finden die Seelenfänger ein reiches Reservoir.

Die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla im Norden Afrikas sind die Steinbrüche der spanischen Dschihadisten. Laut Geheimdienst, Polizei und Guardia Civil sind bisher etwa hundert Menschen von spanischem Territorium aus aufgebrochen, um im Irak oder in Syrien den Islamischen Staat (IS) oder die Nusra-Front zu verstärken. Mehr als die Hälfte sollen aus Ceuta und Melilla gekommen sein.

Die mutmaßlichen Radikalen, die in Melilla verhaftet wurden, haben wenig gemein mit den studierten Mittelstands-Dschihadisten, die in Großbritannien oder Deutschland aufgefallen sind. "Die Bärtigen nutzen die Jungen aus, die nichts zu verlieren haben. Täglich werden es mehr. Sie greifen sich die, die Hunger haben", sagt Yusuf Kadur, Präsident der islamischen Gemeinde Al Nur, die bald ein islamisches Zentrum eröffnen will, das ein Gegengewicht zu den Bärtigen bieten soll. Kadur hat noch einen anderen Weg gefunden, wie er verhindern will, dass sein 16-jähriger Sohn sich den Radikalen anschließt. "Ich habe gerade 600 Euro für Markenklamotten für ihn ausgegeben, damit er sich nicht islamistisch kleidet und den Bart stehen lässt." Nach und nach verlieren viele Familien ihre Kinder. Viele Jugendliche lehnen den moderaten Islam ihrer Eltern ab.

Die Mode des Islamismus sei neu, sie komme von weit her

Allerdings heißt das noch lange nicht, dass jeder, der in den Dunstkreis der Bärtigen gerate, auch gleich eine Kalaschnikow in die Hand nehme, versichern hier lebende Muslime. Sie beklagen sich, dass die ständigen Razzien der gesamten islamischen Gemeinschaft das Leben schwer machten. Verurteilungen folgten ohnehin sehr selten auf die Verhaftungen.

Das Viertel Cañada de Hidum ist das Zentrum des Salafismus in Melilla. Hier lebt die religiöse Strenge inmitten von Schmutz, Unrat, Drogen und dem Recht des Stärkeren. Das Labyrinth aus flachen Häusern erhebt sich an einem Hügel außerhalb der Stadt. Es gibt viele halb fertige Häuser, aber auch ausladende Balustraden, die mit Geld zweifelhafter Herkunft bezahlt wurden. Der Müll stapelt sich auf den Straßen, niemand sammelt ihn auf. Ein ausgebranntes Auto liegt unter einer Straßenlaterne, aus der die Nachbarn Strom abzapfen. Es gibt hier keine Arbeit, und das wenige Geld stammt aus Kleindealerei oder einem zeitlich begrenzten Auftrag der Stadtverwaltung. Ansonsten herrscht in Cañada totale Arbeitslosigkeit.

Essen verteilt eine Hilfsorganisation, die 300 Familien ernährt, wie der Helfer Hassan erklärt, der gerade einer Frau ihre Ration austeilt. Sie trägt ein grünes Gewand und Handschuhe, sodass kein Quadratzentimeter Haut unbedeckt bleibt. Hassan hilft auch den in der Schule gescheiterten Kindern und den Legionen von Leuten ohne Papiere, die dem Radar der Behörden entkommen sind und in Cañada unterschlüpfen. Hier verstecken sich auch flüchtige Verbrecher aus Marokko. Man fälscht die Fahrgestellnummern in Deutschland gestohlener Autos, die anschließend über die marokkanische Grenze verschoben werden. "Hier fesseln sie alte Omas, um sie auszurauben, es ist ein Chaos, man hat uns im Stich gelassen. Ohne Religion wäre das alles längst explodiert", sagt ein Anwohner. Die Mode des Islamismus sei neu, sie komme von weit her. Früher habe es das im Viertel nicht gegeben.

Die Radikalisierung breitet sich in ganz Melilla aus. In immer mehr Vierteln öffnen kleine Moscheen oder Lokale, in denen sich Radikale treffen. Verschleierte Mädchen sieht man in der ganzen Stadt, in immer weniger Kneipen wird Alkohol ausgeschenkt und Schweinefleisch serviert. Der Anthropologe Massin Hartit, der die Berberkultur im Fernsehsender Popular TV erklärt, sagt, viele Marokkaner, die Festlands-Spanien wegen der Krise verließen, hätten neue Ideen nach Melilla gebracht und zur Radikalisierung beigetragen.

Diese Ideen sind so anziehend, weil sie jungen Menschen auf einmal eine Lebensperspektive geben, das Gefühl, Teil einer internationalen Elite zu sein, es hebt das kollektive Selbstbewusstsein der Marginalisierten. "Die Islamisten machen aus einem Drogensüchtigen über Nacht eine Respektsperson", sagt Abderramán Benyahia, der Präsident der Muslimischen Vereinigung. Melilla sei nur ein Beispiel für einen weltweiten Trend zur Islamisierung.

Die Männer, die sich von den Islamisten einfangen haben lassen, sind in der Öffentlichkeit sichtbar, etwa, wenn sie nach einer Razzia demonstrieren. Die Frauen sind schwerer auszumachen, weil sie zu Hause bleiben. Das heißt aber nicht, dass sie sich nicht radikalisieren würden. Im vergangenen August horchte ganz Spanien auf, als die erste mutmaßliche spanische Dschihadistin verhaftet wurde. Sie heißt Fauzía Allal Mohamed, ist 19 Jahre alt und lächelt viel. Ihr Fahndungsfoto mit schwarzgeschminkten Augen und schwarzem Kopftuch ging durch die Presse. Sie wurde zusammen mit einer Minderjährigen unter dem Vorwurf verhaftet, sie seien auf dem Weg in den Heiligen Krieg.

Beide wollten die Grenze nach Marokko überschreiten, angeblich, um mit einem Netzwerk Kontakt aufzunehmen, das sie direkt nach Syrien und Irak weiterleiten sollte. So hieß es in einer Mitteilung des Innenministeriums. Drei Tage nach ihrer Verhaftung wurden die Mädchen wieder auf freien Fuß gesetzt. Eine Freundin und die Familie Fauzía Allal Mohameds versichern, dass die 19-Jährige nur in einer Whatsapp-Gruppe mit einem Dutzend Mädchen in ganz Spanien verbunden gewesen sei, die muslimische Inhalte verbreite. Darin hätten sie über die richtige Art gechattet, sich muslimisch zu kleiden, wie man eine gute Ehefrau sei, ob man während der Menstruation beten dürfe.

Eines Tages habe die minderjährige Freundin Fauzía Allal Mohamed vorgeschlagen, in Marokko billige Kleidung einzukaufen. An der Grenze habe man beide dann verhaftet. Waren es nur zwei Mädchen, die auf den Markt wollten, wie es die Familie darstellt? Oder waren es wirklich die ersten Dschihadistinnen, wie das Innenministerium behauptet? Tatsache ist, dass Fauzía Allal Mohamed sich immer mehr verschleierte. "Den Körper zu bedecken ist in Mode", sagt eine ihrer Freundinnen. Ansonsten sei die 19-Jährige offen, fröhlich, selbstbewusst. Sie glaube nicht, dass die Frau dem Mann immer gehorchen müsse. Sie lernt Friseurin und geht samstags in die Koranschule, um eine gute Muslimin zu sein. Den Konflikt in Syrien kenne sie nur aus dem Fernsehen und aus Filmen, sagt ihre Familie. Nun ist sie Hauptdarstellerin in ihrem eigenen Film, Regie führt die Generalstaatsanwaltschaft.

Eine 20-jährige erzählt, sie finde den Koran schön

Die Bärtigen greifen sich die Jungen beim Fußball, im Fitnessstudio, in der Moschee. Die Mädchen werden über Whatsapp kontaktiert. Sie besuchen auch die Häuser gelehrter Frauen. Von ihnen lernen die Mädchen die islamischen Regeln vom Anlegen der korrekten Kleidung bis zum Umgang mit Männern und Schwiegermüttern. Sie lernen, dass ihre zukünftigen Männer Prinzen seien, die sie stets beschützen und umsorgen würden, solange sie den Gesetzen des Islam folgten. In der Regel wird Gehorsam gegenüber dem Mann eingefordert.

Eine 20-Jährige, die die Kurse besucht, erzählt, dass sie den Koran sehr schön finde. Viele ihre Freundinnen hätten sich eine Burka zugelegt. Sie seien in den Islam verliebt und wollten, dass nur ihr Ehemann sie sehen könne. Mit Terrorismus habe das nichts zu tun. Zwei Mädchen, die über ihre Erfahrungen mit dem Islam berichten wollten, sagten das Interview ab. Ihre Männer hätten es ihnen nicht erlaubt. Viele der Frauen, die wie schwarze Schatten durch Melilla huschen, sind konvertierte Christinnen, behaupten Einheimische.

In den öffentlichen Schulen häufen sich die Fälle, in denen Schüler sich weigern, an Aktivitäten teilzunehmen, die sie als "haram", also als im islamischen Sinne verboten ansehen. Ein Junge rannte aus der Klasse, weil sein Lehrer während des Ramadan ein Foto des nackten David von Michelangelo zeigte. Ein Mädchen wollte nicht vor einem Poster fotografiert werden, das unter dem Slogan "Bring back our girls" forderte, dass die islamistische Miliz Boko Haram in Nigeria entführte Schülerinnen freilassen soll. Viele dürfen von ihren Eltern aus nicht an Ausflügen teilnehmen.

Der Lehrer und Gewerkschaftler Luis Escobar stellt heraus, dass viele Kinder mit der Berbersprache aufgewachsen seien und mit Spanisch erst in der Schule in Kontakt kämen. Deshalb falle es ihnen schwer, dem Unterricht zu folgen. Viele verließen deshalb die Schule und landeten auf der Straße. Escobar fordert mehr Lehrer.

Die Zustände in Palästina, Syrien und im Irak legen sich mit Macht über die lokalen Verhältnisse in Melilla und begännen, Gegensätze zu verschärfen. Es gebe viel soziale Ungleichheit zwischen Christen und Muslimen, sagt der Anwalt Mohamed Busián, der drei verhaftete mutmaßliche Dschihadisten verteidigt. Diese traditionelle Ungleichheit schaffe Frustration. Radikale Ideologien böten eine Zuflucht. "Es gibt hier eine riesige soziale Bresche, die mit dem öffentlichen Diskurs der Multikulturalität kontrastiert", sagt er. Das schaffe eine Form von Victimismus. Gegen Kritik schirme sich diese Opferhaltung ab. Die Angehörigen der schweigenden Mehrheit mischten sich zwar nicht mit den neuen Strömungen, aber segneten deren Ausbreitung still ab, um nicht in Verdacht zu geraten, schlechte Muslime zu sein.

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SZ vom 05.02.2015/pamu/mane
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