Radikaler Islam:Wer al-Qaida in den Schatten stellt

A man fires a RPG in this still image taken from an undated recruitment video for the Islamic State in Iraq and the Levant (ISIL)

Ausschnitt aus einem Rekrutierungsvideo der Isis: Einige Newcomer stellen die Mutterorganisation des Terrors längst in den Schatten

(Foto: Reuters)

Der politische Islam hat abgewirtschaftet, siehe Ägypten. Der radikale Islam aber findet immer mehr Zulauf. Wochenend-Krieger zieht es zu Isis-Milizen, die den Sadismus ihrer Mutterorganisation al-Qaida übertreffen. Mit einfachen Mitteln werden die Terroristen nicht zu bändigen sein.

Ein Kommentar von Sonja Zekri, Kairo

Terrorist Nummer eins ist seit drei Jahren tot, aber seine Saat geht auf, giftiger denn je. Von Mali bis Bali bedrohen Dschihadisten den Frieden, Staaten, die Zivilisation - einige davon als direkte Ableger al-Qaidas, einige von der negativen Utopie der nihilistischen Krieger vage inspiriert.

Wie bei allen globalen Ideologien drehen sich manche Differenzen zwischen Keimzelle und Sprössling um taktische Fragen: Streben wir erst das lokale Kalifat und dann den Griff nach der Weltherrschaft an oder umgekehrt?

Längst nicht alle Gotteskrieger in Afrika oder Asien unterstellen sich dem Bin-Laden-Nachfolger Aiman al-Zawahiri. Der ägyptische Arzt wirkt ein bisschen lahm, jedenfalls nicht auf der Höhe der Dynamik des zeitgenössischen Dschihad.

Einige Newcomer stellen die traditionsreiche Mutterorganisation des Terrors sogar längst in den Schatten. Die Entführung von über 200 Mädchen in Nigeria durch die Extremisten von Boko Haram hat mit al-Qaida nichts mehr zu tun. Und in Syrien und Irak übersteigt der demonstrative Sadismus der Isis-Milizen selbst das von al-Qaida noch als nützlich betrachtete Maß an Grausamkeit.

Der Islamismus speist sich aus vielen Quellen

Für Europa ist diese Entwicklung nicht nur ein neuer Anlass, um über eine weitere Runde im Krieg gegen den Terror nachzusinnen. Wochenend-Krieger und verkrachte Existenzen aus Gladbeck oder Gütersloh schätzen den Terror-Tourismus als Flucht vor den Zumutungen westlicher Ordnung - gern mit Rückfahrkarte.

Gleichzeitig aber und nur auf den ersten Blick verblüffenderweise verliert der politische Islam an Boden. In Ägypten wurde soeben der Anführer der Muslimbruderschaft, Mohammad al-Badie, zum Tode verurteilt.

Ein Jahr nach dem Ende der Islamistenregierung steht seine Organisation am Rand der Auflösung. Die Führungsriege samt Ex-Präsident Mursi ist in Haft, ihre Struktur zerschlagen, ihre Anhänger im Untergrund. Die willkürliche Verfolgung der Islamisten durch die neuen Machthaber unter Ex-Armeechef Abdel Fattah al-Sisi ist entsetzlich und grundfalsch, aber sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Muslimbruderschaft, die älteste und produktivste Organisation des politischen Islam, in den Augen der meisten Ägypter erst einmal abgewirtschaftet hat.

In den Augen vieler Araber hat das ägyptische Beispiel, wie so oft, Signalwirkung. So wünscht auch ein großer Teil der Libyer, dass der megalomane General Chalifa Haftar die Islamisten von der Macht verdrängt.

Wie die Bewegung aufzuhalten wäre?

Auf den zweiten Blick haben beide Entwicklungen - der Niedergang des politischen Islam und der Aufstieg der Extremisten - durchaus miteinander zu tun. Die Zahl der Anschläge ist seit dem gewaltsamen Ende der Mursi-Herrschaft sprunghaft angestiegen. Je mehr Todesurteile der Staat verhängt, desto mehr Bomben explodieren vor Polizeistationen. In Libyen beherrscht die radikale Ansar al-Scharia ganze Städte.

Überhaupt ist es ein politisches Axiom, dass Radikalismus gedeiht, wo politische Kräfte an den Rand gedrängt werden. Und in den neuen Terror-Arenen ist das nicht anders. Boko Haram rekrutiert sich im Norden Nigerias, der verarmt, illiterat, unterversorgt ist. Im Irak verbünden sich sunnitische Ex-Saddam-Soldaten und frustrierte sunnitische Stämme mit den Isis-Kämpfern gegen eine Regierung, die Sunniten systematisch vernachlässigt und verfolgt. In Jemen treibt der amerikanische Drohnen-Krieg al-Qaida neue Rekruten in die Arme.

Manche Gründe haben noch weniger zu tun mit Ideologie: In armen Gegenden lassen sich für ein paar Dollar junge unterbeschäftigte Männer für die Aussicht auf Ruhm im Diesseits und das Paradies im Jenseits anwerben.

Wie die Bewegung aufzuhalten wäre? Mehr Gerechtigkeit zwischen Stämmen und Konfessionen, bessere Regierung, weniger Gewalt, mehr Bildung. All dies ist wohlfeil, all dies ist von gescheiterten Staaten wie Somalia oder chronisch korrupten Gebilden wie Nigeria nicht so leicht umzusetzen.

Die andere Frage ist, ob sich die Extremisten durch die Integration des politischen Islam schwächen lassen, ob also die Bindungskräfte der Demokratie ein Antidot gegen den Terror sein können? Oder ist es umgekehrt: Die Islamisten nutzen Wahlen als Vehikel, um die Demokratie abzuschaffen? Auch hier bietet sich Ägypten als aktuelles Negativbeispiel an. Vieles deutet darauf hin, dass die Muslimbruder-Regierung nur deshalb weniger repressiv war als das jetzige Regime, weil ihr Polizei und Armee nicht gehorchten.

Die Lösung für dieses Dilemma ist ebenso einfach wie leider fantastisch: In einem funktionierenden Staatswesen üben Parlament, unabhängige Gerichte und Medien Kontrolle über jeden Machthaber aus - ob mit Bart oder ohne.

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