Kopfschütteln war noch die freundlichste Reaktion auf den umstrittenen Gerichtsbeschluss zur Leipziger Querdenken-Demonstration. 16 000 Querdenker auf dem Leipziger Augustusplatz? Diese Obergrenze hatte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Bautzen gezogen, die am Ende sogar noch deutlich überschritten wurde, und viele Kritiker hielten den Gerichtsentscheid deshalb für unverantwortlich.
Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) erinnerte die Richter an das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) will Versammlungen künftig auf 1000 Teilnehmer begrenzen.
Demo in Leipzig:"Querdenken" wird zur Belastungsprobe für Sachsens Regierung
Friedlich oder nicht - bei der Bewertung der Ereignisse in Leipzig gehen die Meinungen von CDU, Grünen und SPD stark auseinander. Der Innenminister trotzt Rücktrittsforderungen.
Nun hat das OVG eine Begründung vorgelegt, die mit Spannung erwartet wurde - auch deshalb, weil nach dem seltsamen Bautzener Beschluss und dem unruhigen Leipziger Wochenende die Sorge entstanden war, eine allzu demo-freundliche Linie der Verwaltungsgerichte könnte bundesweit für weiteres Querdenkerchaos sorgen.
Wer freilich die elf Seiten aus der ostsächsischen Stadt an der Spree liest und mit anderen Gerichtsentscheidungen vergleicht, der wird zum Ergebnis kommen: Als Vorbild für den Umgang mit der Versammlungsfreiheit in Pandemiezeiten taugt der Beschluss nicht. Er dürfte eher als Ausreißer in die Rechtsgeschichte eingehen.
Dabei hat das OVG in einem zentralen Punkt recht. Eine Demonstration aus der Innenstadt in die Peripherie zu verlegen, ist nur in wirklich gut begründeten Ausnahmefällen möglich. Die Stadt wollte die Kundgebung aufs Gelände der Neuen Messe verlegen, aber das ist ein Wunsch, den sie mit vielen Kommunen teilen dürfte. Massenaufzüge in der Fußgängerzone oder auf Innenstadtstraßen sind für die Ordnungskräfte schon ohne Virus ein Problem, trotzdem geht hier Grundrecht vor Bequemlichkeit.
"Vom Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters ist grundsätzlich ... die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst", schreibt das OVG und kann sich dabei auf Verfassungsgerichtsurteile bis zurück in die 80er-Jahre berufen. Dass sich Veranstalter symbolträchtige Orte suchen dürfen, gehört zum Kern der Versammlungsfreiheit, so deplatziert man dies im Einzelfall finden mag.
Trotzdem bleibt auch die Verlegung eine Option, oder eben die Begrenzung der Teilnehmerzahl. Schon gar in einer Krise, in der Menschenmassen zum Synonym für Infektionsrisiken geworden sind. Wenn die öffentliche Sicherheit "unmittelbar gefährdet" ist, so zitiert das OVG aus der Karlsruher Rechtsprechung, dann seien Auflagen erlaubt.
Ein Rechenexempel, das für eingemauerte Stelen funktioniert, aber nicht für aufgebrachte Menschen
Gesundheitsschutz, kein Zweifel, gehört zur öffentlichen Sicherheit. An dieser Stelle kommt freilich die "Gefahrenprognose" ins Spiel: Wer das hohe Gut der Versammlungsfreiheit beschränken will, der muss sich auf konkrete und nachvollziehbare Anhaltspunkte stützen; "bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen hierzu nicht aus", schreibt das Gericht.
Auch das ist richtig, aber an dieser Stelle beginnt die Begründung immer dünner zu werden, wie eine Eisfläche im Tauwetter. Zwar ist, siehe oben, nachvollziehbar, dass das Gericht auf Teilnehmerbegrenzung statt auf Verlegung setzt.
Das Rechenexempel aber, mit dem das OVG das coronagerechte Platzangebot für 16 000 Demonstranten begründet, würde für 16 000 eingemauerte Stelen funktionieren - aber nicht für 16 000 aufgebrachte Menschen, die ausgerechnet gegen das protestieren, was den Infektionsschutz auf einem vollbesetzten Platz vielleicht noch halbwegs gewährleisten könnte. Gegen Maskenpflicht zum Beispiel, oder bereits gegen die Erkenntnis, dass die Pandemie eine echte Gefahr ist.
Denn das OVG veranschlagt den verfügbaren Platz auf gut 111 000 Quadratmeter und rechnet aus, dass damit jedem Teilnehmer die für den Mindestabstand erforderlichen sechs Quadratmeter bleiben, plus Sicherheitspuffer. Weder kalkulieren die Richter ein, dass immer auch sehr viel mehr Demonstranten anreisen können, noch tragen sie den - eine Seite zuvor selbst erwähnten - "Dynamiken einer großen Menschenmenge" Rechnung. Es wirkt eher so, als hätten sie bereits kapituliert, weil sich der Protest so oder so in der Stadt breit machen würde, mit oder ohne Auflagen.
Dabei hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) nur eine Woche zuvor gezeigt, wie man Teilnehmerzahlen bei Querdenker-Protesten realitätsgerecht veranschlagt. Die Stadt München hatte eine Kundgebung auf 1000 Teilnehmer statt der gewünschten 5000 beschränkt - auf der Theresienwiese, die drei oder vier Mal so groß ist wie das Areal in Leipzig.
Angesichts der Erfahrungen mit der Querdenken-Bewegung könne sich die Einschätzung, "dass es ohne die Teilnehmerbeschränkung zu einer Vielzahl von Verstößen gegen die angeordnete Maskenpflicht und die Abstandsregeln mit entsprechenden Infektionsgefahren kommen werde, auf konkrete Erfahrungen aus der jüngeren Vergangenheit stützen", schrieben die Münchner Richter.
Die Stadt hatte den Richtern eine Liste der schlechten Erfahrungen vorgelegt, aus München im September, aus Nürnberg, Stuttgart und Berlin im Oktober. Überall dasselbe Bild: Zu viele Teilnehmer mit zu wenigen Masken im Gesicht und zu geringen Abständen.
Es ist vor allem die Zahl 16 000, die im Vergleich mit anderen Entscheidungen aus dem Rahmen fällt. In Hamburg wurde eine Klimaschutzkundgebung in drei räumlich getrennte Aufzüge mit je 3500 Menschen unterteilt. Das war Ende September, vor dem starken Anstieg der Infektionszahlen.
Karlsruhe hat nie behauptet, dass die Versammlungsfreiheit Vorrang hat vor der Abwehr ernster Gesundheitsgefahren
In Karlsruhe befreite das Verwaltungsgericht kürzlich eine Querdenker-Demo von der Maskenpflicht. Das war zwar überraschend, aber da ging es um 500 Personen auf einer großen Fläche. In Bremen deckelte das OVG kürzlich eine Demo auf 100 Teilnehmer. Und am Beginn der Pandemie feierte man das Verfassungsgericht für einen Sieg der Versammlungsfreiheit - weil ein Protestzug in Gießen mit 30 Teilnehmern stattfinden durfte.
Übrigens war es jener Karlsruher Beschluss vom April, der nach einigen demonstrationslosen Wochen eindringlich daran erinnerte, dass die Versammlungsfreiheit auch während einer Pandemie ein hohes Gut bleibt, vielleicht noch wichtiger als sonst. Dass sie aber stets Vorrang habe vor der Abwehr ernster Gesundheitsgefahren - das hat Karlsruhe nie behauptet.