Süddeutsche Zeitung

"Querdenken"-Demo:Tag des Gedränges, Nacht der Gewalt

Nach einer "Querdenken"-Demonstration in Leipzig kommt es zu Ausschreitungen. Polizisten und Journalisten werden von Rechtsextremen attackiert. Gleichzeitig steht die Polizei erneut selbst in der Kritik - und Sachsens Innenminister.

Von Cornelius Pollmer und Antonie Rietzschel, Leipzig

Wollte man einem Außerirdischen beibringen, wie Städte sich anfühlen unter einem Lockdown oder einem Lockdown light, dieser Samstag in Leipzig wäre leider gar nicht dafür geeignet. Schon am Vormittag schieben sich wuchtige Reisebusse durch die so zentrumsnahe wie teils verwinkelte Gottschedstraße, nach äußerem Anschein innen voll besetzt mit Menschen und von Helium beflügelten roten Luftballons in Herzform.

Allein auf dem kurzen Weg in die Innenstadt hört man fünf Sorten Schwäbisch und zwar nicht, weil alle Vermieter auf einmal in die Stadt gekommen sind, um nach dem Rechten in ihren Eigentumswohnungen zu sehen. Nein, die amorphe Formation "Querdenken", die viele politische Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie grundsätzlich kritisiert, hat zu einer Demonstration mobilisiert und es sind, das muss man als Anwohner neid- jedoch nicht klaglos feststellen, mehr Menschen diesem Aufruf gefolgt, als man ohnehin schon zu viel gefunden hätte.

Mit 16 000 Menschen war seitens der Anmelder wie der Polizei kalkuliert worden, die Forschungsgruppe "Durchgezählt" taxierte die Masse schließlich auf "wenigstens 45000" Menschen. Mit so vielen Gästen wird es selbst im Umfeld eines weitläufigen Areals wie dem Augustusplatz schnell eng und jedenfalls enger als nach aktuellen Maßgaben zulässig oder, das darf ja auch eine Rolle spielen, vernünftig wäre. Wie also geht das gut, eine Demonstration, mit so vielen Menschen, im Lockdown-light-Monat November?

Kaum einer unter den Demonstrierenden trägt Mundschutz

Die wichtigste Antwort: Es geht nur teilweise gut. Wie die Anmelder der Kundgebung so hat auch die Polizei aus dem ganzen Bundesgebiet mobilisiert, es sind zahlreiche Kräfte vor Ort und die Mahnungen, Abstände einzuhalten und einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen leuchten teilweise sogar von Anzeigetafeln an Mannschaftswagen. Allein, kaum einer unter den Demonstrierenden trägt Mundschutz und ein ratsamer Abstand wird in weiten Teilen ebenfalls nicht eingehalten. Die Polizei bekommt das alles im Detail mit, unternimmt aber im Grunde nichts dagegen. Darüber wird noch am Tage digitalöffentlich diskutiert und wird es weiter werden.

Die zweitwichtigste Antwort: Wie wenig dieser Samstag gut gegangen sein wird, das werden die daran Teilnehmenden wie alle anderen womöglich in einigen Tagen an den Unser-täglich-Rot-gib-uns-heute-Zahlen des Robert Koch-Instituts ablesen können. Wenn aus allen möglichen Orten und sogar Hotspots des Landes so viele Menschen in eine andere Stadt reisen, dann darf man das als ungünstig bezeichnen. Die Stadt Leipzig hatte deswegen begründet versucht, die Demo aus dem Zentrum in die etwas abgelegene Neue Messe zu verlegen - eine Entscheidung des Oberverwaltungsgericht Bautzen aber stand dem schließlich entgegen.

Angebote für abwegige Gedanken

Und so strömen sie am Samstag in Leipzigs Mitte, sehr viele Menschen, von denen nicht wenige ein Angebot unterbreiten, sich auch abwegige Gedanken zu machen. Da ist eine Person, die aus Alufolie nicht nur einen Hut, sondern eine Pickelhaube geformt hat. Da ist eine weitere, die sich schlussendlich erfolgreich Gedanken gemacht hat, wie man die Buchstabenfolgen CDU und SPD zu einem Slogan umdeuten könnte - Corona Diktatur unterdrückt soziale Politik Deutschlands. Da ist eine dritte, die eilig noch "Lockdown Leid" auf ein Blatt Papier geschmiert hat.

"Trump forever", droht das Schild einer Frau, eine Gruppe weiterer Damen passiert in sandfarbenen Mönchskutten und versichert auf Nachfrage, ihr Ziel sei es hier und heute, "einen Beitrag für den Frieden" zu leisten.

Mit diesem Frieden, grundsätzlich wie dem konkreten Frieden einer Stadt, ist es am Samstag in Leipzig so eine Sache. Würden sich nicht einige der Demonstrierenden selbst gerne Atteste ausstellen (etwa solche, die vom Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes befreien), man attestierte den meisten von ihnen noch lieber, dass Friedlichkeit ihnen ein hohes Gut sei. Einige Menschen hier wirken recht grundsätzlich verirrt, sie tragen eigentümlich karnevalistische Kleidung oder beschriften Pappen und Schilder mit verschwörerischem Komplettunsinn, den hier wiederzugeben einen zum Glück niemand verpflichten kann.

Rechtsextreme Hooligans und andere Verhaltensauffällige

Aber sie sind, das trifft in überragender Weise tagsüber zu: friedlich. Richtig ist aber auch, dass "Querdenken" sich bislang mangelhaft bis gar nicht dafür einsetzte, nicht von jenen gekapert oder wenigstens genutzt zu werden, die sich noch nie zu schade waren, sich irgendwo dranzuhängen. Auch am Samstag in Leipzig schieben sich kleinere und mittlere Gruppen von rechtsextremen Hooligans und anderen Verhaltensauffälligen durch die Masse und man ahnt sofort, was sich am Abend bewahrheiten wird: Das gibt noch gewaltigen Stress - und die Polizei ist darauf nur unzureichend vorbereitet. Immer wieder sammeln sich in Nebenstraßen kleinere Gruppen von Neonazis, werfen Pyrotechnik auf Beamte. Auf dem Innenstadtring, dort wo 1989 Menschen friedlich gegen die DDR-Diktatur demonstrierten, greifen 31 Jahre später Schwarzvermummte Journalisten an und überrennen eine Polizeikette. Das Versprühen von Pfefferspray, das zeigen später Videos, gerät zu einer fast hilflosen Geste.

Dabei hätte die Polizei vorbereitet sein müssen, schon im Vorfeld der Querdenken-Demonstration hatten Rechtsextreme in diversen Telegram-Gruppen mobilisiert. Und spätestens Ausschreitungen in Heidenau 2015 und Chemnitz 2018 haben das Gewaltpotential dieser Gruppen offenbart.

Die Frage, warum die Polizei auf die Krawalle in Leipzig geradezu defensiv reagierte, versuchte der zuständige Leipziger Polizeichef Torsten Schultze in der Nacht per Video-Nachricht zu beantworten. Man hätte den Angreifern nur mit unmittelbarem Zwang begegnen können, so Schultze. "Gewalt einzusetzen war an dieser Stelle nicht angezeigt. Man bekämpft eine Pandemie nicht mit polizeilichen Mitteln."

Die Polizeiführung und wohl auch der zuständige Innenminister Roland Wöller (CDU) werden sich wohl noch bessere Erklärungen überlegen müssen. Denn noch in der Nacht meldeten sich diverse Landespolitiker zu Wort und zeigten sich fassungslos angesichts der Berichte und Bilder aus Leipzig. Die Grünen, Koalitionspartner von SPD und CDU in Sachsen, forderten gar den Rücktritt Wöllers.

Ein noch einmal anders eigentümlich klingendes Fazit veröffentlichen die Organisatoren von "Querdenken" noch in der Nacht in einem Telegram-Kanal. Ein friedlicher Demozug sei durch Leipzig gezogen, schreibt da etwa der Rechtsanwalt Markus Haintz. "Manche wollten die Polizei gegen uns ausspielen, das hat nicht funktioniert."

Und selbst wenn der Stress am Abend überwiegend von Dritten an "Querdenken" herangetragen worden sein sollte, die Bewegung selbst leistet am Samstag in Leipzig mindestens tagsüber ihren Eigenanteil, um von einem größeren Teil der Gesellschaft weiterhin kritisch betrachtet zu werden und beispielhaft dafür steht "der kleine Paul". Auf diese Weise wird ein 12-jähriger Junge als Redner bei der Kundgebung angekündigt und eingeführt und dann steht "der kleine Paul" tatsächlich da und beginnt "seine" Rede mit ein paar Parallelen, die ja wohl bitte zwischen dem heroischen Leipzig des Jahres 1989 und dem 7. November 2020 zu ziehen seien.

Aber wenn einen ja eh fast nichts mehr wundert, dann vielleicht auch nicht "der kleine Paul", für den - so will es die Kundgebung Glauben machen - wegen Maskenpflicht in der Schule und so weiter etwas gilt, was auch auf dem T-Shirt eines am Rande kauernden Demonstrationsbesuchers zu lesen ist. Ja, im Grunde gilt der Spruch nicht nur für Paul und den Mann, er gilt für die Polizei gewiss ebenso wie für die Anwohner, das Klinikpersonal von Zittau bis Aachen und, ach, eigentlich für alle in diesem November. Auf dem T-Shirt nämlich steht: "Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden".

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