Süddeutsche Zeitung

Thronrede im britischen Parlament:Charles liest vor, was Johnson will

Erstmals seit fast 60 Jahren verpasst die Queen die Eröffnungsrede im britischen Parlament. An ihrer Stelle spricht der Thronfolger - und vieles ist anders als sonst.

Von Oliver Klasen

Was an diesem Dienstag um 12.30 Uhr deutscher Zeit passiert, so schreibt es der britische Guardian in seinem Artikel gleich drei Mal, sei unprecedented, noch nie dagewesen also.

Für diesen Zeitpunkt ist die Queen's Speech angesetzt, die traditionelle Thronrede des britischen Staatsoberhauptes, die jedes Jahr die Sitzungsperiode des britischen Parlaments eröffnet. Ein Ritual, dessen Abläufe bis ins Kleinste festgelegt sind und dem im traditionsverliebten Königreich eine hohe symbolische Bedeutung zukommt.

Schon immer, also jedenfalls seit die überwältigende Mehrheit der Britinnen und Briten denken kann, hat Queen Elizabeth II. diese Rede gehalten. Sie hat auf dem Thronsessel im britischen Oberhaus Platz genommen, wo die Queen's Speech traditionell verlesen wird, denn das Unterhaus darf nach alter Überlieferung seit 1642 kein Monarch mehr betreten. Sie hat die Krone getragen, die auf einem roten Samtkissen gebettet extra mit einem Rolls-Royce aus dem Buckingham-Palast zum Palace of Westminster gefahren wird, jedenfalls bis ihr diese Krone wegen des Gewichts vor ein paar Jahren zu schwer wurde. Sie hat auch Hüte getragen und zarte politische Signale ausgesendet mit diesen Hüten, sagen Palastexperten, 2017 zum Beispiel, als sie einen blauen Hut mit gelben Blumen trug, angeblich ein Bekenntnis zur EU. Und sie hat im vergangenen Jahr, noch in tiefer Trauer, weil kurz zuvor ihr Ehemann, Prinz Philip, gestorben war, vor fast leeren Bänken geredet, wegen der Pandemie waren nur 17 Lords und 17 Unterhausabgeordnete anwesend. Kurzum: Königin Elizabeth II. hat während der Thronrede im Parlament stets das getan, weswegen sie allseits geachtet wird: ihr Land mit Würde repräsentiert. Und das, obwohl sie nur das vorträgt, was der jeweilige Premierminister ihr hat aufschreiben lassen. Denn die Thronrede ist letztlich allein das: ein Tätigkeitsbericht und eine Auflistung der Vorhaben der Regierung, in diesem Fall jener von Premier Boris Johnson.

Doch in diesem Jahr kommt die Queen nicht. Das ist das, was der Guardian in seinem Artikel unprecedented nennt. Elizabeth hat die Thronrede nur 1959 und 1963 verpasst, als sie mit Prince Andrew beziehungsweise Prince Edward schwanger war. An Stelle der Queen wird Prinz Charles vorlesen, was Johnson will. "Mobilitätsprobleme" werden als offizieller Grund genannt, warum die 96-jährige Königin nicht selbst die Thronrede hält. Die Ärzte hätten ihr dazu geraten, heißt es am Vorabend der Zeremonie aus dem Buckingham Palace und es verlautet auch, dass der Queen die Entscheidung sehr schwer gefallen sei.

Schon in den vergangenen Monaten hat sie ihren Sohn Charles, 73, und dessen Sohn William, 39, mit immer mehr repräsentativen Aufgaben betraut. Sie selbst hat fast nur noch Termine auf Schloss Windsor wahrgenommen, wo sie seit Beginn der Pandemie lebt.

Die Boulevardblätter bringen an diesem Tag lange Geschichten über die Königin, jedes Detail, das Hinweise auf ihren Gesundheitszustand geben könnte, wird hin und her gewendet. Sie fragen zum tausendsten Mal, ob Charles der Rolle als Nachfolger wirklich gewachsen ist (Antwort meist: nein). Damit Charles die Thronrede halten kann, musste ein sogenanntes letters patent erlassen werden, mit diesem Dokument kann die Queen hoheitliche Aufgaben auf die sogenannten counsellors of state übertragen, Familienmitglieder, die im Bedarfsfall befugt sind, royale Funktionen zu übernehmen. Derzeit gibt es deren vier: Prinz Charles, Prinz William, Prinz Andrew und Prinz Harry, wobei die letzten beiden aus bekannten Gründen ausfallen.

Charles kommt mit seiner Ehefrau Herzogin Camilla zum Oberhaus, auch Prinz William und Herzogin Catherine sind anwesend. Die Krone wird, obschon Charles sie natürlich nicht tragen wird, dennoch per Rolls-Royce herbeigefahren.

Die Abgeordneten des Unterhauses müssen die Thronrede im hinteren Teil des Oberhauses stehend verfolgen. Sie werden, angeführt vom Speaker des Hauses, in den Saal geführt, bis zu einer Linie, die sie nicht überschreiten dürfen. Hinter dem Speaker stehen Boris Johnson von den konservativen Tories und Keir Starmer, der Oppositionsführer von der Labour Party. Nicht alle der mehr als 600 Abgeordneten passen in den Raum, viele von ihnen müssen das Geschehen von draußen verfolgen. So prunkvoll inszeniert und traditionsbeladen die Zeremonie ist, so schnörkellos ist die Rede selbst: Charles listet ohne pathetische Einleitung nacheinander die Gesetzesvorhaben der Regierung auf, von der Förderung des Freihandels, über die Stärkung der Polizei bis zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Nach etwa zehn Minuten wünscht er Gottes Segen, fertig.

Und die Untertanen in Großbritannien? Sie können sich immerhin bewusst machen, dass ihre Demokratie trotz des Brexit, trotz der Partyskandale um Boris Johnson, trotz neuer Probleme in Nordirland, wenigstens einmal im Jahr glänzt. Sie haben die Queen's Speech. Die Deutschen haben Regierungserklärungen von Olaf Scholz. Die sind, bei aller Kritik am Kanzler, zwar inhaltlich gehaltvoller und rhetorisch spannender als das, was Prinz Charles vom Blatt abgelesen hat, aber es hilft nichts: Scholz redet eben nicht von einem Thron aus.

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