Q&A:Was für eine Minderheitsregierung spricht - und was dagegen

Plenarsaal des Bundestages wird umgebaut

Wer wird künftig in Deutschland regieren?

(Foto: dpa)
  • Eine Minderheitsregierung wäre in Deutschland auf Bundesebene ein Novum. Dass sie skeptisch gesehen wird, hat historische und verfassungsrechtliche Gründe.
  • Dem Nachteil der politischen Instabilität steht der Vorteil der Konzentration auf Sachfragen gegenüber.
  • In Schweden haben Minderheitsregierungen Tradition. In Sachsen-Anhalt regierte die SPD acht Jahre lang erfolgreich ohne Mehrheit.

Von Jasmin Siebert

Seit dem Scheitern der Jamaikaverhandlungen am Sonntagabend geistert ein Begriff durch die Debatten, der allen Angst macht: Er heißt Minderheitsregierung. An ihm haftet die Furcht vor politischer Instabilität, ihm schlägt Skepsis bis Ablehnung entgegen. Dabei gibt es in vielen anderen Ländern erfolgreiche Minderheitsregierungen. Auch auf Landesebene und in den Kommunen ist diese Konstellation nicht ungewöhnlich. Nur im Bund gab es eine derartige Regierungsform noch nie. "Man muss es probieren", fordert Stephan Klecha, Politikwissenschaftler an der Universität Göttingen. Schließlich sind sechs Parteien im Parlament auch ein Novum in der Bundesrepublik. "Eine Minderheitsregierung ist keine Katastrophe", sagt auch Thomas Puhl. Der Verfassungsrechtler an der Universität Mannheim hat über das Thema promoviert.

Warum stößt das Szenario einer Minderheitsregierung auf eine derart große Ablehnung? Welche anderen Länder könnten Deutschland jetzt als Vorbild dienen? Und wie kommt eine Minderheitsregierung überhaupt zustande? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen:

Wie entsteht eine Minderheitsregierung?

In der Vergangenheit wurden im Deutschen Bundestag Mehrheiten durch Koalitionen geschaffen, sofern keine Partei allein die absolute Mehrheit hatte. Nach der jüngsten Wahl haben es die Parteien jetzt nicht geschafft, sich zu einer mehrheitsfähigen Koalition zusammenzuschließen. Angela Merkel ist derzeit nur geschäftsführende Kanzlerin und Ministerien werden kommissarisch geleitet. In dieser Situation kommt dem Bundespräsidenten eine tragende Rolle zu. Ihm obliegt es, dem Parlament einen Kanzler oder eine Kanzlerin vorzuschlagen. Höchstwahrscheinlich würde Frank-Walter Steinmeier Angela Merkel als Spitzenkandidatin der Partei mit dem höchsten Stimmenanteil vorschlagen, muss er aber nicht.

Politikwissenschaflter Klecha weist auf die Möglichkeit eines sogenannten Technokratenkabinetts unter einem parteilosen Kandidaten hin. Infrage käme zum Beispiel Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Diese Option hält Klecha jedoch für extrem unwahrscheinlich.

Erhält der Vorschlag des Bundespräsidenten keine absolute Mehrheit im Bundestag, wählen die Abgeordneten nach zwei Wochen erneut. Ist das Ergebnis unverändert, beginnt der im Grundgesetz geregelte Krisenmodus: Bundespräsident Steinmeier muss sofort einen dritten Wahlgang ansetzen. Erhält die Kandidatin eine relative Mehrheit, darf Steinmeier sie zur Kanzlerin ernennen. Sie muss dann eine Minderheitsregierung führen. Alternativ kann der Bundespräsident Neuwahlen anordnen.

Was sind die Nachteile einer Minderheitsregierung?

Die große Schwäche einer Minderheitsregierung ist ihre Instabilität. Während eine Koalition dank einer dauerhaften Stimmenmehrheit ihre Gesetzesvorhaben durchbringen kann, muss sich eine Minderheitsregierung für jedes Vorhaben neue Verbündete - sogenannte Tolerierungspartner - suchen. Verfassungsrechtler Puhl sieht dabei die Gefahr einer "Petrifizierung", einer politischen Versteinerung: Bis Vorschläge durchkommen, kann es lange dauern, und statt großer Reformen könnte es nur noch Klein-Klein geben.

Warum die Idee einer Minderheitsregierung in Deutschland wie ein unheimliches Gespenst wahrgenommen wird, liegt derzeit vor allem an einem: der Furcht, sich bei manchen Abstimmungen von der AfD tolerieren lassen zu müssen und sie damit "hoffähig" zu machen. "Durch die Einbindung könnte man aber auch die verschiedenen Flügel der AfD gegeneinander aufbringen", sagt Stephan Klecha. Es würde wohl zu innerparteilichen Streitigkeiten kommen, wenn die Partei inhaltlich und konstruktiv Stellung beziehen muss.

Weitere Vorbehalte gegen eine Minderheitsregierung sind vor allem Deutschlands politischer Tradition und Historie geschuldet. Die Weimarer Republik von 1918 bis 1933 war geprägt von einer extrem zersplitterten Parteienlandschaft, ständigen Kabinettswechseln und machtlosen Minderheitsregierungen. Auch wegen der deshalb eingeführten Fünf-Prozent-Klausel gab es später in der Bundesrepublik immer stabile, regierungsfähige Mehrheiten. Eine Minderheitsregierung auf Bundesebene war schlicht nie notwendig, daher fehlt heute die Erfahrung.

Dass einer Minderheitsregierung von vornherein der Nimbus der Notlösung anhaftet, hat auch verfassungsrechtliche Gründe: Die Zustimmung für einen Minderheitskanzler dürfte wohl erst im dritten Wahlgang zustande kommen und muss im Anschluss vom Bundespräsidenten bestätigt werden. In dieser Anlage steckt bereits eine symbolische Schwächung.

Ein weiterer Nachteil: Regiert eine Minderheitsregierung, dürfte das politische Gerangel, das es während der Sondierungsgespräche gegeben hat, zum Dauerzustand werden. Die wechselnden Bündnisse, die es für die Abstimmungen bedarf, bringen immerwährende Verhandlungen mit sich. Lässt sich eine Partei überzeugen, bei einem Gesetzesentwurf der Regierung mit Ja zu stimmen, wird sie dafür Zugeständnisse in anderen Bereichen fordern. Die Regierungspartei wird von ihren Tolerierungspartnern abhängig.

Die Konzessionen könnten auch dazu führen, dass in verschiedenen Bereichen gegenläufige Vorhaben auf den Weg gebracht werden: Es könnten etwa einerseits im Bündnis mit den sozialen Parteien höhere Sozialausgaben angepeilt werden und zugleich im Bündnis mit den Liberalen Steuererleichterungen für Unternehmen.

Was spricht für eine Minderheitsregierung?

In einer Minderheitsregierung müssen Inhalte immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. Im Idealfall rücken Sachfragen vor Ideologie und Koalitionstaktik. Anders als bei einer Koalition, bei der in allen Bereichen eine Einigkeit erzielt werden muss, können Tolerierungspartner allerdings Übereinkünfte für einzelne Bereiche vertraglich regeln und andere Felder bewusst ausklammern. Es wäre eventuell leichter, in einzelnen Fragen Einigkeit und damit Handlungsfähigkeit zu erzielen.

Wechselnde Mehrheiten bei unterschiedlichen Abstimmungen würden vermutlich auch dem Wählerwillen mehr entsprechen. Man braucht sich nur im eigenen Freundeskreis umhören, um zu merken, dass sich kaum mehr jemand mit dem gesamten Programm einer Partei identifiziert. Die Wähler sind in einem Bereich eher liberal, in einem anderen eher links oder lehnen solche althergebrachten Klassifizierungen generell ab. Selbst Politiker grenzen sich immer häufiger in manchen Punkten von ihren Parteikollegen ab.

Eine noch nie dagewesene Situation erfordert eine neuartige Lösung. Eine solche könnte der Entschluss sein, eine Minderheitsregierung bewusst auszuprobieren, damit es rasch um Inhalte gehen kann. Erneute Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen oder eventuell sogar Neuwahlen dagegen würden den politischen Betrieb lange lahmlegen.

"Wenn es eine Figur in der deutschen Geschichte gibt, die eine Minderheitsregierung führen könnte, dann Angela Merkel", glaubt Jöran Klatt, der am Göttinger Institut für Demokratieforschung zur politischen Kultur forscht. Wegen ihrer hohen Kompromissbereitschaft und ihrem Verhandlungstalent traut er ihr die Führung einer Minderheitsregierung zu. Eine nicht einigungsfähige Opposition sei auch ein Garant dafür, dass eine Minderheitsregierung einigermaßen stabil ist. Um die Minderheitskanzlerin zu stürzen, müssten sich verfeindete Lager zusammenschließen - ein Szenario, das derzeit unwahrscheinlich scheint. Politikwissenschaftler Klecha schlägt vor, eine Minderheitsregierung ein Jahr lang auszuprobieren. Hätte Angela Merkel bis dahin keine mehrheitsfähige Regierung beisammen, könnte sie die Vertrauensfrage stellen. "Das halte ich für eine elegante Lösung", sagt Klecha. Dass die Alternative von Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt stabilere Verhältnisse brächte, hält er für unwahrscheinlich. Und dass die Alternative einer großen Koalition bei den Bürgern nicht beliebt ist, hätten die vergangenen Wahlen und Umfragen gezeigt.

Wie gut funktionieren Minderheitsregierungen in anderen Ländern?

Beispiele für funktionierende Minderheitsregierungen finden sich überall auf der Welt, insbesondere in skandinavischen Ländern haben sie Tradition. Anders als in Deutschland, das zwei Diktaturen und Systemumbrüche verkraften musste, ist die Demokratie dort langsam gewachsen und wird kaum von ideologischen Grabenkämpfen bestimmt. Die stärkere Orientierung an Sachthemen spiegelt auch die Sitzordnung im schwedischen und norwegischen Parlament wider: Sie orientiert sich an der Herkunftsregion und nicht an der Fraktion der Abgeordneten.

In Schweden sitzen derzeit acht Parteien im Parlament. Seit 2010 regiert eine sozialdemokratische Minderheit mit wechselnden Tolerierungspartnern, auch zuvor reichte es fast nie für Mehrheiten.

Nicht immer klappt alles reibungslos. Jens Gmeiner, Experte für politische Systeme Skandinaviens beim Göttinger Institut für Demokratieforschung, gibt ein Beispiel: Nach den Wahlen im Jahr 2014 konnte die schwedische Regierung keinen eigenen Haushalt verabschieden und musste mit dem Budget, das die oppositionelle Allianz der bürgerlichen Parteien beschlossen hatte, regieren. Um so etwas künftig zu verhindern, wurde die sogenannte Dezembervereinbarung getroffen. "Um eine gewisse Handlungsfähigkeit der Minderheitsregierung zu garantieren, halten sich die bürgerlichen Parteien in der Opposition bei wichtigen Abstimmungen zurück", erklärt Gmeiner. Es ist ein Beispiel für eine pragmatische Vereinbarung, die vom konsensorientierten Geist der schwedischen Politik geprägt ist. Und sie erinnert daran, dass die Verabschiedung des Haushalts, wofür es eine Kanzlermehrheit braucht, ein zentraler Punkt ist, um den sich eine Minderheitsregierung früh kümmern muss.

Welche Erfahrungen haben die Bundesländer mit Minderheitsregierungen gemacht?

In deutschen Bundesländern gab es immer wieder Minderheitsregierungen, doch nur einmal war sie keine aus der Not heraus geborene Übergangslösung. Reinhard Höppner (SPD) regierte in Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 ohne Mehrheit, diese Regierungsform ist als Magdeburger Modell bekannt. Nachdem die bis dato regierende Koalition von CDU und FDP ihre Mehrheit verloren hatte, regierte der Sozialdemokrat zunächst mit einer rot-grünen Koalition, vier Jahre später allein. Beide Male wurde die Regierung von der PDS toleriert. Es wurde kritisiert, dass die Nachfolgepartei der SED - und Vorgängerpartei der Linkspartei - damit hoffähig gemacht würde. Höppner lobte sie am Ende seiner Regierungszeit als zuverlässigen Partner. 2002 übernahmen CDU und FDP wieder die Regierung.

Weil eine Stimme zur absoluten Mehrheit fehlte, bildete Hannelore Kraft (SPD) gemeinsam mit den Grünen im Jahr 2010 eine Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen. Als der Haushaltsentwurf zwei Jahre später keine Mehrheit fand, beschloss der Landtag seine Auflösung. Neuwahlen brachten dann eine klare Mehrheit für Rot-Grün.

Auf kommunaler Ebene vereinen Bürgermeister oft keine koalitionäre Mehrheit hinter sich, manchmal sind sie wie auch Stadt- oder Gemeinderäte parteilos. Bei Abstimmungen orientieren sie sich eher an Inhalten als an Parteizwängen oder organisieren sich in wechselnden Zweckbündnissen.

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