Putsch in Ägypten:Warum die Demokratie ein schwieriges Exportgut ist

Egyptians after the presidency handover in Egypt

Putsch im Namen des Volkes? EIne Frau zeigt bei einer Demonstration ein Bild von Verteidigungsminister und Armeechef al-Sisi. er hatte maßgeblichen Anteil am Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Mursi.

(Foto: dpa)

Wie lässt sich die Idee von der Volksherrschaft durchsetzen in Weltregionen, die mit dem westlichen Ideal von Freiheit und Mehrheitswillen keine Erfahrung haben? Demokratie ist der Feind der Mauschler, der Korrupten und der Autokraten - aber sie ist auch mühsam, wie das Beispiel Ägypten zeigt.

Ein Essay von Stefan Kornelius

Demokratie lässt sich messen. Wie mit einem Fieberthermometer. Mal geht die Kurve hoch, mal geht sie runter. Wo auch immer auf der Welt gewählt, protestiert, geputscht und bestochen wird: Immer steht die besorgte Ärzteschaft am Bett, um Puls, Temperatur und Herzschlag zu notieren. Die Daten werden in Tabellen eingetragen, in Kuchengrafiken gepresst, auf Powerpoint übertragen.

Der Aufwand ist immens, der Erkenntnisgewinn groß - zumindest für die Politikwissenschaft, die Soziologen und die Spendensammler, die auf der Suche sind nach neuen Geldgebern im immer gleichen Kampf um mehr Gerechtigkeit und Freiheit. Denn darum geht es am Ende: Wie viel Gerechtigkeit und Freiheit gibt es auf der Welt? Wie ist es um den Willen des Volkes bestellt - oder genauer: der Mehrheit dieses Volkes? Und wie lässt sich die Idee von der Volksherrschaft durchsetzen in Weltregionen, die mit diesem westlichen Ideal von Freiheit und Mehrheitswillen nicht so viel anfangen können.

Die Bertelsmann Stiftung hat das vielleicht beste Fieberthermometer dieser Art gebaut. BTI nennt sich das Werkzeug, der Bertelsmann Transformationsindex, der den Zustand in 128 Entwicklungs- und Schwellenländern misst. 250 Experten schreiben viele tausend Bewertungen, sie studieren Politik und Wirtschaft, begutachten den Grad der politischen Teilhabe, die Rechtsstaatlichkeit, Stabilität von Institutionen, die Marktordnung, das Maß an Wettbewerb, die Sozialordnung und vieles mehr. Dann vergeben sie Noten, und am Ende entsteht eine Tabelle. Zuletzt stand Tschechien ganz oben, und auf dem 128. und letzten Platz war Somalia zu finden. Um Ägypten, platziert auf dem 88. Rang, ist es nicht gerade rosig bestellt.

Viele Stiftungen und Institutionen tun es dem BTI nach - manche aus purer wissenschaftlicher Neugier, andere mit messianischem Antrieb. Wie einst die Missionare das Christentum in die Welt trugen, so unterstützen nun politische Stiftungen und Staaten die Gedanken von Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. Sie bringen ihn aus wie eine Saat auf unbestelltem Feld. Die Eigentümer dieser Äcker sind in der Regel nicht erfreut über diese Feldfrüchte - die neue Saat könnte sich als resistenter erweisen als die von ihnen bevorzugten Monokulturen.

Der Coup von Kairo liefert Stoff für Zynismus

Demokratie ist ein interessantes Pflänzchen: Wenn sie wächst, kann sie sehr machtvoll werden. Aber sie ist auch anfällig bei Klimaschwankungen und manchmal wenig resistent bei Parasitenbefall. Wer das Pflänzchen auf seinem Feld entdeckt, der weiß: Nun geht es um Alles - um die Macht, das Geld, um Frieden und Stabilität. Denn die Demokratie ist der Feind der unkontrollierten Macht, der Mauschelei, der Korruption und der Bereicherung.

Ägypten liefert nun wieder Studienstoff für alle, die es theoretisch lieben. Darf man es also gut finden, wenn ein General einen Putsch anführt, um einen demokratisch gewählten Präsidenten abzusetzen zugunsten eines irgendwann einmal zu wählenden neuen Präsidenten? Wird dieser neue Präsident dann noch demokratischer sein?

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Was ist ein Putsch?

Er kommt meist unangekündigt, nicht selten geht es blutig zu, und in der Regel spielen Uniformierte eine Hauptrolle: Der Putsch gehört wohl zur Weltgeschichte, seit es Macht und Menschen gibt. Das Wort selbst ist allerdings im deutschsprachigen Raum nicht ganz so alt. Es stammt vom schweizerischen "Bütsch", das ursprünglich und recht lautmalerisch einen heftigen Stoß, Zusammenstoß oder Knall bezeichnete. Die Schweizer Volksaufstände in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts - vor allem der "Züriputsch", bei dem nicht Soldaten, sondern Bauern mit Knüppeln gegen die Kantonsregierung marschierten - führten dazu, dass der Begriff auch ins Hochdeutsche und in die Politikwissenschaft Einzug fand.

Laut heutiger Definition zielt bei einem Putsch eine kleinere Gruppe, meist aus der Armee, darauf ab, die Staatsgewalt zu übernehmen, und zwar auf einem nicht verfassungsgemäßen Wege. Das kann in einer Militärdiktatur münden (etwa in Chile 1973). Manchmal installieren die Akteure nach dem Umsturz aber auch mehr oder weniger freiwillig eine zivile Regierung und dirigieren aus dem Hintergrund (so in Mali 2012). Auch der ägyptische Armeechef Abdel Fattah al-Sisi wollte die negativen Konnotationen eines Putsches offenbar vermeiden, indem er bei seiner im Fernsehen übertragenen Ansprache zur Absetzung des Präsidenten Geistliche und Oppositionsvertreter um sich scharte. (isch)

Der Coup von Kairo erlaubt jede Menge Zynismus, gerade für die Verfechter der reinen Lehre. Für die Realisten aber ist er ein wichtiges Beweisstück dafür, dass die Sache mit der Demokratie relativ ist. Parteien-Autokraten in Japan, Italiens seltsames Zwei-Kammern-System, die Machtfülle des US-Präsidenten - Demokratien kennen viele Spielarten. Die saubere Zweiteilung der Welt in die Guten und die Bösen funktioniert nur selten. Ein Amerikaner kann sich fragen, ob es gesund ist für die Demokratie, wenn ein Kanzler vier Wahlperioden lang regieren darf.

Man muss gar nicht in Kairo beginnen. Auf dem Bahnhofsplatz in Stuttgart zeigten Tausende, wie schwer es ist, den im Volksentscheid ausgedrückten Mehrheitswillen zu akzeptieren. Und der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wird bis heute nicht verstehen, dass er zwar von der Mehrheit der Wähler ins Amt gebracht wurde, dass er aber deswegen nicht automatisch ein Mandat zur Durchsetzung all seiner Ideen erhalten hat.

Missverständnisse beim Demokratieexport

Die Angelsachsen, die viel von Demokratie verstehen, kennen die schöne Formulierung, wonach man Demokratie nicht mit der Wahlurne verwechseln dürfe. Eine Weisheit, die den Deutschen spätestens nach Hitlers Machtergreifung eingängig sein müsste. Mehrheiten machen also noch keine Demokraten. Aber kann man Demokraten auch ohne Mehrheiten schaffen? Lässt sich Demokratie einpflanzen, selbst in unwirtliche Weltgegenden, die noch nie in der Geschichte die Verteilung und Ausübung der Macht als Angelegenheit aller verstanden haben?

Die Geschichte des Demokratieexports steckt voller Missverständnisse und Tragödien, aber am Ende war es genau dies: Die Idee der Demokratie wurde exportiert, sie pflanzte sich fort, sie krallte sich fest, sie wuchs und gedieh. Denn am Ende werden die Werkzeuge der Demokratie - Wahlen, die Dominanz des Rechts -, zu einem Zweck eingesetzt: um Herrschaft zu erlangen. Demokratie ist ein Instrument der Machtausübung, so wie alle anderen Herrschaftsformen auch. Oder wie der Aphorismen-Meister Winston Churchill in perfektem Understatement sagte: Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, mit Ausnahme all der anderen.

Der Feldzug der modernen Demokratie begann 1215 in einem Marktflecken südwestlich von London, auf halbem Weg zwischen dem königlichen Schloss Windsor und dem Lager der englischen Feudalherren. Dort, in Runnymede, unterzeichnete King John, den sie auch Johann Ohneland nennen, die Magna Carta. Wer heute den schönsten der vier erhaltenen Pergamentbögen im Kapitelsaal der großartigen Kathedrale von Salisbury sieht, der wird nach einem kurzen demokratischen Schauder an den nackten, machtpolitischen Kern der Demokratie erinnert: Zum ersten Mal musste sich der absolute Herrscher dem Recht beugen, das Kraftverhältnis zwischen dem König und seinen (auch nicht gerade ohnmächtigen) Fürsten wurde neu bestimmt.

Zur Demokratiefähigkeit der arabischen Welt wurde viel geschrieben, auch viel Unsinn

Fast 800 Jahre, viele Revolutionen und Kriege später, ist die Demokratie überall in der Welt beim Volk angekommen. Unabhängig aller theoretischen Debatten um ihre perfekte Passform und vermeintliche Überlegenheit bleibt indes die Frage, ob sich das Prinzip weiterpflanzen lässt - zum Beispiel in arabische Gesellschaften.

Die Idee vom Demokratie-Export ist so alt wie der Konflikt der Ideologien. Das 20. Jahrhundert hat sich gar den Beinamen "der Ideologien" erworben. Nach all den Totalitarismen, nach Faschismus, Kommunismus, Stalinismus, überlebte die Demokratie das Epochenjahr 1989 eindrucksvoll als Siegerin. Aber nun, nach 9/11 und der von der damaligen US-Regierung leichtfertig versprochenen Demokratisierung der arabischen Welt, stehen die Demokraten vor demselben Problem: Lässt sich ihr Prinzip der Machtverteilung immer weiter ausdehnen?

Über die Demokratiefähigkeit der arabischen Welt wurde viel geschrieben, auch viel Unsinn: über die mächtige Kraft der Religion, über das patriarchalische Gesellschaftsbild, die unüberwindbaren Stammes- oder Clan-Strukturen, den Nepotismus, den Fanatismus, den Mangel an Aufklärung. Alles Hindernisse auf dem Weg zur Demokratie - angeblich. Dann wurde missioniert: mit Stiftungen, mit Geld und guten Worten, auf Konferenzen und Studienreisen. Das Ergebnis: Von außen ist diesem Moloch kaum beizukommen, ein demokratischer Reifeprozess ist eine zutiefst innergesellschaftliche Sache.

Wenn die Demokratie von den Druckwellen der Bomben weggeblasen wird

Als 2001 die Truppen der USA und ihrer Verbündeten unter UN-Mandat nach Afghanistan zogen, war besonders in Deutschland die Hoffnung verbreitet, man könne dort eine Art Schweiz schaffen - ein föderales Gebilde mit direkter Demokratie, die das Bedürfnis der Clanstrukturen spiegelt. Es bedurfte einiger Jahre und des Mutes des damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier, der nach langer interner Debatte mittelte, dass man sich von den Vorstellungen einer "Westminister-Demokratie" verabschieden müsse.

Als 2005 im Irak erste demokratische Wahlen abgehalten wurden und im Libanon die Zedern-Revolution ausbrach, brachte die Zeitschrift Economist ein Titelbild, das eine ausgelassen feiernde junge Frau auf den Schultern eines Mannes zeigte. Im Hintergrund wehten libanesischen Fahnen. 2006 zog die Hisbollah das Land in ihren Krieg mit Israel, heute droht der syrische Bürgerkrieg den Libanon zu verschlingen. Und im Irak wird der letzte Hauch Demokratie von den Druckwellen den Bomben weggeblasen, die im sektiererischen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten gezündet werden.

Ägypten kommt in diesem epischen Ringen um Recht und Freiheit eine besondere Rolle zu. Gelingt dem Land mehr Demokratie, dann strahlt das ab auf die Länder Nordafrikas und der arabischen Halbinsel. Versinkt es in einem Strudel aus Putsch, Gewalt und Despotie, dann ist die demokratische Hoffnung auf lange Zeit dahin. Die Elemente in der Gleichung sind bekannt: die Religion in ihren fanatischen Schattierungen, die Versorgung mit dem Nötigsten, Arbeit, Gerechtigkeit, das Militär.

Volle Mägen machen gute Demokraten

Die Funktion des Westens in dieser Gleichung ist nach all den Jahren der Demokratieförderung ebenfalls gut zu erkennen: Einfluss hat er, der Westen - vor allem als Vorbild. Das westliche Lebensmodell ist - mit kulturellen Einschränkungen - noch immer attraktiv. Seine Gerechtigkeit ist erstrebenswert, aber mehr noch der Wohlstand. Und da liegt die vielleicht letzte Chance für die etablierten Demokratien.

Volle Mägen machen gute Demokraten, heißt es lakonisch. Übersetzung für die politische Arbeit: Leistet Entwicklungsarbeit, schickt Geld, fördert Arbeitsprojekte, helft bei Investitionen. Von alldem ist zu wenig geschehen in den arabischen Revolutionen. Investment-Dollars fließen ungern ins Revolutionsgetümmel. Aber Dollars und Euros wären keine schlechte Investition in die Demokratie, gemeinsam mit - behutsam - eingesetzten Rechtsberatern, Verwaltungshelfern, Polizeiausbildern. Aber die Demokratien haben zu dieser Hilfe keine Kraft. Sie spiegeln, in aller Ehrlichkeit, die größte Not von Demokratien: wie mühsam nämlich dieses Modell ist.

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