Putins Partei mit Verlusten bei Parlamentswahl:"Einiges Russland ist die KPdSU von heute"

Denkzettel für den mächtigsten Mann des Landes: Putins Partei "Einiges Russland" wird bei der Wahl abgestraft und erreicht gerade noch die absolute Mehrheit. Wieso Putin dennoch Präsident werden wird und was das Ergebnis für Medwedjew bedeutet.

Matthias Kolb

Warum hat die Kreml-Partei "Einiges Russland" so stark verloren?

Parliamentary elections in Russia

Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew, Ministerpräsident Wladimir Putin.

(Foto: dpa)

In den Augen vieler Russen hat Einiges Russland nur eine Aufgabe: Der Wahlverein soll die Macht von Wladimir Putin sichern. Putin, der von 2000 bis 2008 Präsident Russlands war und dieses Amt 2012 wieder anstrebt, steht an der Spitze der Partei, ohne offizielles Mitglied zu sein. Als Spitzenkandidat fungierte Präsident Dmitrij Medwedjew. In der vergangenen Legislaturperiode verfügte Einiges Russland im russischen Parlament, der Duma, über eine komfortable Zwei-Drittel-Mehrheit und stellte 315 der 450 Abgeordneten.

Insofern liegt es für viele russische Wähler nahe, die Defizite des russischen Staats mit der Arbeit von Einiges Russland gleichzusetzen. Und hier liegt der Grund für das - im Vergleich zur vorherigen Wahl - durchwachsene Ergebnis der Partei: Russland ist mehr schlecht als recht durch die Weltwirtschaftskrise gekommen, die Korruption beherrscht den Alltag der Bürger, die Verwaltung ist ineffizient und viele Beamte interessieren sich mehr für das eigene Portemonnaie als für die Belange der Bürger. Russland schöpft sein Potential nicht aus, die Wirtschaft stützt sich vor allem auf den Rohstoff-Reichtum des Landes, das Bildungssystem ist ebenso schlecht wie die medizinische Versorgung, junge Talente gehen ins Ausland und die Infrastruktur ist marode.

Einiges Russland hatte nach Meinung zahlreicher Wähler "viele Möglichkeiten, Russland zu verbessern, und hat es nicht getan", bilanziert Alexander Rahr, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, im Gespräch mit sueddeutsche.de. Putins Partei erinnere viele Wähler zusehends an eine Art KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion; diese seien nun auf der Suche nach Alternativen. Rahr zufolge ist vor allem der wachsende Mittelstand enttäuscht, der heute bereits 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung ausmache, über Privatbesitz verfüge, konsumorientiert sei und sich von alten Putin-Slogans wie "Russland wird sich von seinen Knien erheben" nicht mehr beeindrucken lasse. Ähnlich urteilt Georgij Satarow von der unabhängigen Indem-Stiftung in einem Interview mit der Financial Times Deutschland: "Die Leute fühlen sich offen verschaukelt. Der Hauptvorwurf lautet, dass in den vergangenen zehn Jahren einfach nichts passiert ist."

Offenbar war gerade vielen Wählern aus der Mittelschicht der Widerspruch zwischen dem eigenen Alltag und den permanenten Erfolgsmeldungen der Staatsmedien über das glorreiche Russland dieses Mal zu groß. Immer mehr Russen setzen die Dauerfloskel von "Stabilität" mit "Stillstand" gleich. Zwar reichen die 49,5 Prozent für Einiges Russland mit 238 von 450 Sitzen zur absoluten Mehrheit, doch eine andere Zahl sollte Wladimir Putin, dem weiterhin mächtigsten Mann Russlands zu denken geben: 2007 stimmten knapp 45 Millionen Russen für seine Partei, vier Jahre später sind es etwa zwölf Millionen weniger.

Wieso ist Wladimir Putin nicht mehr so beliebt?

Die Erklärung der Russland-Expertin Fiona Hill von der Brookings Institution für Putins und Medwedjews sinkende Popularität ist ebenso simpel wie einleuchtend: "Viele Leute haben einfach die Nase voll von den beiden." Dies sei jedoch kein typisch russisches Phänomen: Auch bei Politikern wie Margaret Thatcher oder Tony Blair seien die Werte nach etwa sieben Jahren gefallen. Die Aussicht, dass der heutige 59-jährige Putin die Geschicke ihres Landes noch bis 2024 steuern könnte, schreckt offenbar immer mehr Russen ab.

Das im Westen weitverbreitete Putin-Bild des Ex-Geheimagenten, der sich als Kraftprotz inszeniert und in Russland uneingeschränkt verehrt wird, war stets überzeichnet und hat sich spätestens seit dem mittelmäßigen Handling der globalen Finanzkrise geändert. Zwar ist Putin noch immer der populärste Politiker Russlands, doch die Nachricht, dass er bei einer Wahlveranstaltung ausgepfiffen wurde, verblüffte eher das Ausland.

Allerdings änderten weder Putin noch Medwedjew ihren Politikansatz: Anstatt sich mit der nicht nur im Internet wachsenden Kritik auseinanderzusetzen oder gar die Diskussion zu suchen, ließen sie sich auf pompösen Massenveranstaltungen feiern. Putins Krönungsmesse zum Präsidentschaftskandidaten beim letzten Parteitag von Einiges Russland ist dafür das beste Beispiel. Natürlich erhielt Wladimir Wladimirowitsch 100 Prozent.

Die Gruppe der Putin-Begeisterten nimmt kontinuierlich ab: Im August 2011 antworteten nur noch 16 Prozent der Befragten in einer Erhebung des Levada-Zentrums, sie seien "vollkommen einverstanden mit Putins Ansichten". Ein Jahr zuvor hatte der Wert noch um sechs Prozentpunkte höher gelegen. Der Aussage "Ich bin bereit, Putin zu unterstützen, solange er bereit ist, demokratische und marktwirtschaftliche Reformen durchzusetzen", stimmten immerhin noch 28 Prozent der Russen zu. Fast jeder fünfte Russe gab an, "früher recht angetan" von Putin gewesen zu sein, doch diese Einschätzung sei der Enttäuschung gewichen.

Der Soziologe Lew Gudkow beschreibt das Verhältnis der Russen zu ihrem Noch-Ministerpräsidenten in der Zeitschrift Osteuropa als eine Mischung aus "Indifferenz mit mangelnden Alternativen". Eine typische Meinung diktierte ein 62 Jahre alter Wähler namens Sergej Tarakanow den Reportern der New York Times in den Block: "Heute wähle ich nicht für jemanden, sondern gegen jemanden." Er habe als Protestwähler nur einen Wunsch: Einiges Russland, jene "Partei der Gauner und Diebe" zu bestrafen.

Was bedeutet das Wahlergebnis für das Tandem Putin/Medwedjew?

Nach der Wahl ist vor der Wahl: Am 4. März 2012 werden die Russen Wladimir Putin zum neuen Präsidenten bestimmen - trotz des Denkzettels bei der gestrigen Duma-Wahl. Daran lässt DGAP-Experte Alexander Rahr keine Zweifel: "Zu Wladimir Putin ist keine echte Alternative in Sicht. Alles andere als ein klarer Sieg in der ersten Wahlrunde wäre eine Sensation."

Seine Gegenkandidaten, der Kommunist Gennadij Sjuganow und der Nationalist Wladimir Schirinowskij, sind seit den neunziger Jahren in der Politik und keine Konkurrenz. Allerdings muss sich Putin in Rahrs Augen etwas einfallen lassen, um ein überzeugendes Ergebnis zu erzielen: "Er muss nicht nur Stärke demonstrieren, sondern auch den enttäuschten Wählern etwas bieten." Erstmals muss der 59-Jährige wirklich um die Mehrheit zu kämpfen, so der Russland-Experte. "Putin braucht ein gutes Ergebnis als Polster für seine sechsjährige Amtszeit. Sollte er in die Stichwahl müssen, käme dies einer Blamage im In- und Ausland gleich", sagte Rahr zu sueddeutsche.de.

Unklarer erscheint einigen Beobachtern die Zukunft von Dmitrij Medwedjew, der gemäß der "Operation Machterhalt" als künftiger Ministerpräsident vorgesehen ist. Medwedjew wertete das Ergebnis am Wahlabend so: "Das Kräfteverhältnis in der neuen Duma spiegelt das tatsächliche Verhältnis der politischen Kräfte im Land wider."

Medwedjew, so könnte eine mögliche Argumentation von Putin und Kreml-Strippenzieher Wladislaw Surkow lauten, habe das schlechte Ergebnis eingefahren und sei deswegen doch nicht der ideale Ministerpräsident. Mit der Demission des 46-jährigen Medwedjew könnte Putin seinem Volk signalisieren, die Botschaft vom 4. Dezember verstanden zu haben. In einigen Kommentaren fällt bereits das Wort "Bauernopfer".

Allerdings sind die beiden enge Vertraute: Medwedjew begann seine Arbeit für seinen Vorgänger und mutmaßlichen Nachfolger als juristischer Berater in Sankt Petersburg und half Putin, einen Korruptionsverdacht gegen ihn auszuräumen. Als dieser 2000 zum Präsidenten wurde, machte Putin Medwedjew zum Vizechef der Präsidialadministration, zum Chef des Gazprom-Aufsichtsrats und 2005 zum Ersten Vizepremier. Die Frage, ob sich Medwedjew im inneren Machtkreis halten kann, wird auch davon abhängen, wie viel Geheimwissen er in diesen knapp 20 Jahren über Putin angehäuft hat - und ob der oft als "weich" beschriebene Petersburger bereit ist, um seinen Posten zu kämpfen.

Alexander Rahr von der DGAP hält die Bauernopfer-These für wenig überzeugend. Einerseits habe sich Putin zu sehr auf den Ämtertausch festgelegt, andererseits könnte ein geschwächter Premierminister Medwedjew gut ins Machtkalkül des Kremls passen. Rahr ist überzeugt: "Medwedjew wird Ministerpräsident werden, das ist Teil des Deals."

Hat es die Kreml-Partei im Parlament nun schwerer?

Die Verluste für Einiges Russland bedeuten keineswegs eine Stärkung für die Demokratiebewegung in Russland. Jabloko, die einzige nach westlichen Maßstäben liberale Partei, scheiterte deutlich an der Sieben-Prozent-Hürde. Die Opposition besteht also aus den Kommunisten von Gennadij Sjuganow, die auf 19,16 Prozent der Stimmen und 92 Sitze kamen, der Kreml-Erfindung Gerechtes Russland (13,22 Prozent / 64 Sitze) sowie der ultranationalistischen Liberaldemokratischen Partei von Wladimir Schirinowskij (11,66 Prozent / 56 Sitze) - allerdings ist die LDPR weder liberal noch demokratisch.

Die Duma werde "pluralistischer, aber nicht kritischer", bilanziert Alexander Rahr. Der Erfolg der eher sozialdemokratisch angehauchten Partei Gerechtes Russland deute darauf hin, dass die enttäuschten Wähler eine linke Alternative mit Forderungen nach mehr Sozialleistungen sowie einem starken Staat den Liberalen von Jabloko vorziehen. Diese Partei stehe für viele Russen sinnbildlich für die turbulenten und von Armut geprägten Jelzin-Jahre.

Allerdings verfügt das russische Parlament nur über geringes Ansehen und noch geringere Kompetenzen, die wichtigsten Entscheidungen werden weiterhin im Kreml getroffen. 2011 konnten die Volksvertreter nur "0,2 Prozent des Etat-Umfangs" beeinflussen, wie ein sichtlich frustrierter Abgeordneter in der Berliner Zeitung klagte. Zum Ende der letzten Amtszeit lobte Parlamentspräsident Boris Gryslow die Arbeit der Mandatsträger: In vier Jahren sei die Rekordzahl von 1581 Gesetzen verabschiedet worden. Allerdings klagen vor allem Wirtschaftsexperten und Unternehmer, dass die Beschlüsse oft widersprüchlich seien. Kritische russische Medien spotten über das "schlechteste Parlament in der Geschichte Russlands". Jeder zweite Russe ist Umfragen zufolge der Ansicht, es sei besser, kein Parlament zu haben als dieses.

Unter den bisherigen Abgeordneten waren so schillernde Figuren wie der Ex-Agent Andrej Lugowoj (LDPR), dem Großbritannien den Mord am Kremlkritiker Litwinenko vorwirft oder die Schauspielerin Jelena Drapeko (Gerechtes Russland). Bei Einiges Russland tummelte sich eine Vielzahl an Sportlern wie Tennisspieler Marat Safin, Box-Weltmeister Nikolaj Walujew oder der zwölfmalige Schachweltmeister Anatolij Karpow.

Warum wurde so viel gefälscht?

Die ersten Meldungen zur Parlamentswahl in Russland sorgten für Aufsehen: "Cyber-Attacken legen kremlkritische Internetseiten lahm". Später häuften sich Hinweise über Wahlfälschungen und Manipulationen: Bereits vor Beginn der Abstimmung sollen Urnen mit Wahlzetteln gefüllt gewesen sein, Autobusse hätten in einer Art Karussell Wähler gleich zu mehreren Wahllokalen zur Abstimmung gefahren und in der Region Krasnobakowsk hingen nach Angaben als Orientierungshilfe in fast allen Abstimmungslokalen vergrößerte Muster eines Wahlscheins. Auf ihnen war ein Haken zu sehen - und daneben der Name "Medwedjew".

Insofern kam die Mitteilung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), dass es nach Einschätzung internationaler Wahlbeobachter und der Opposition deutliche Verstöße gegeben habe, nicht überraschend. Es seien "häufige" Unregelmäßigkeiten beim Urnengang festgestellt worden, teilte die Organisation am Montag mit.

Alexander Rahr von der DGAP erklärt die vielen Berichte über Fälschungen und Manipulationen vor allem mit "vorauseilendem Gehorsam": Viele Bürgermeister und Gouverneure fürchteten einen Schaden für ihre Karriere, wenn sie kein herausragendes Ergebnis für die Staatspartei lieferten. "Ich glaube nicht, dass es einen Auftrag vom Kreml gibt, bestimmte Prozentzahlen zu liefern", meint Russland-Experte Rahr. Die Möglichkeiten, das Ergebnis zu beeinflussen, seien begrenzt, da neben den internationalen Wahlbeobachtern auch Oppositionsparteien wie die Kommunisten das Recht hätten, die Stimmabgabe zu überwachen.

Mit Material von Reuters, dapd, dpa

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