Ostukraine:Wie Moskau seine Macht im Donbass zementiert

Crisis in Ukraine

Leben im Dauerkrieg: Zivilisten stehen Schlage an einem Kontrollpunkt der prorussischen Rebellen in der Gegend von Lugansk.

(Foto: Alexander Ermochenko/dpa)
  • Moskau festigt seinen Einfluss in der Ostukraine mit russischen Pässen für Bewohner, illegalen Waffenlieferungen und Schattengouverneuren.
  • An diesem Montag wollen sich die Staats- und Regierungschefs von Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine in Paris treffen.
  • In der Ukraine befürchtet man, der diplomatisch unerfahrene Selenskij könnte von Putin über den Tisch gezogen werden.

Von Florian Hassel, Warschau

Der Präsident kam direkt von der Front ins Fernsehstudio. Vor dem Gipfeltreffen im sogenannten Normandie-Format hatte sich Wolodimir Selenskij, Staatschef der Ukraine, am Freitag noch einmal einen Eindruck von der Lage im Kriegsgebiet der Ostukraine verschafft. Dort redet niemand von einem Frieden: Allein an diesem Tag zählten die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) an der 427 Kilometer langen Front zwischen den von Moskau kontrollierten "Volksrepubliken" Donezk (DNR) und Lugansk (LNR) und der von Kiew kontrollierten Ukraine mehr als 150 Explosionen und etwa 750 weitere Verletzungen der Waffenruhe.

Als er im olivgrünen Armeeanzug in der beliebten Talkshow "Pressefreiheit" auftrat, bemühte sich Präsident Selenskij, schon den Gipfel an sich als Erfolg darzustellen. Er hoffe, dass beim Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel über einen Gefangenenaustausch ebenso gesprochen werde wie über einen richtigen Waffenstillstand. "Seit 2016 gab es keinen Dialog, was bedeutet, dass es keine Möglichkeit gab, den Krieg zu beenden."

Bei dem sind seit 2014 den Vereinten Nationen zufolge mehr als 13 000 Menschen getötet worden. Und das Sterben ging auch weiter, nachdem Moskau und Kiew im Sommer begannen, an drei Stellen der Front ihre Einheiten jeweils einen Kilometer zurückzuziehen. Allein Kiew zählte weitere 43 ums Leben gekommene Soldaten. Konstantin Reuzki von der Bürgergruppe Wostok-SOS berichtete über massive russische Truppenbewegungen im Grenzgebiet zur Ukraine und in den von Aufständischen kontrollierten "Volksrepubliken" sowie von unvermindertem Beschuss mit Granaten. "Nichts deutet bisher darauf hin, dass die russische Regierung ihre aggressiven Absichten aufgeben will."

Die Steinmeier-Formel ist vage im Detail

Viele Ukrainer fürchten, dass sich der diplomatisch unerfahrene Selenskij vom russischen Präsidenten über den Tisch ziehen lassen wird. Putin will ein Kiewer Autonomiegesetz für die "Volksrepubliken", das Moskaus Dominanz über die Ostukraine faktisch festschreiben würde. Dem Gesetz sollen Wahlen vorausgehen, deren Rechtmäßigkeit die OSZE feststellen soll. Das sind die Kernpunkte einer von Frank-Walter Steinmeier noch als Außenminister vorgeschlagenen Formel, die am 1. Oktober von Kiew und Moskau akzeptiert wurde.

Die Steinmeier-Formel ist freilich, wie auch die 2014 und 2015 bei Gesprächen in Minsk unterschriebenen Protokolle, vage im Detail. Selenskij hat zuletzt in der vergangen Woche bekräftigt, ein Autonomiegesetz, notwendige Verfassungsänderungen und Wahlen in den "Volksrepubliken" kämen erst infrage, wenn etwa Punkt zehn des Minsker Protokolls vom 12. Februar 2015 ("Minsk-2") umgesetzt sei: der "Abzug aller bewaffneten ausländischen Einheiten, aller Militärtechnik und aller Söldner unter Beobachtung der OSZE" sowie die "Entwaffnung aller illegalen Gruppen".

Dafür müsste der Kreml einige Tausend russische Soldaten, Geheimdienstleute und Söldner, beispielsweise die von einem Putin-Freund gesteuerte Wagner-Gruppe, aus der Ostukraine abziehen - genau wie Hunderte russische Panzer, Granatwerfer und anderes Kriegsgerät. Dazu käme die Entwaffnung der von Kiew auf 35 000 Mann geschätzten Separatistenmilizen in den Gebieten.

Zudem hat Selenskij bekräftigt, die ukrainisch-russische Grenze müsse wieder vollständig durch Kiew kontrolliert werden. Ukrainische Parteien, Politiker, Bürgergruppen und Journalisten müssten zudem uneingeschränkten Zugang zu Donezk und Lugansk haben - und 1,5 Millionen aus dem Donbass geflohene Ukrainer an den Wahlen teilnehmen können, die zeitgleich mit Lokalwahlen im Rest der Ukraine am 31. Oktober 2020 stattfinden sollen. Im Klartext: Selenskij fordert das Ende des Moskauer Marionettenregimes.

Nichts deutet darauf hin, dass Putin dazu bereit ist - im Gegenteil. Moskau schickt verstärkt illegal "humanitäre" Lastwagenkonvois in die Ostukraine, die offenbar auch Waffen und Munition transportieren. Im Mai beschwor Putin zum ersten Mal das "tausendjährige historische Russland" - Nationalisten fordern unter diesem Begriff die Wiederherstellung des Imperiums aus Zarenzeiten, das auch große Teile der Ukraine umfasst. Zudem befahl Putin per Erlass, Einwohnern der "Volksrepubliken" im beschleunigten Verfahren die russische Staatsbürgerschaft zu gewähren. Bis Mitte November bewilligte Moskau eigenen Angaben zufolge auf diesem Wege bereits mehr als 170 000 russische Pässe.

Selenskijs Ratgeber haben einen Plan B

Die Aufsicht über die "Volksrepubliken" führt seit 2014 Putins Berater Wladislaw Surkow. Westlichen Militärvertretern zufolge wird er unterstützt von Hunderten russischen "Ratgebern" bis hin zu "Schattengouverneuren", die anstelle der nominellen "Präsidenten" von Donezk und Lugansk faktisch entscheiden. Der Kreml bindet die Gebiete nicht nur mit Pässen immer enger an Russland. Vier Hochschulen der "Volksrepubliken" wurden mittlerweile in Russland akkreditiert, was Studenten erlaubt, ihre sonst wertlosen Diplome in russische umzutauschen. Am 5. Oktober vereidigten die Separatisten in Donezk öffentlich die ersten 225 Absolventen ihrer Polizeiakademie. Und am 29. November beschloss das "Parlament" in Donezk ein "Gesetz über die Staatsgrenze" zur von Kiew kontrollierten Ukraine.

Die Ratgeber von Präsident Selenskij haben deshalb auch einen Plan B vorbereitet - das Einfrieren des Konfliktes. Der Kommandeur der ukrainischen Truppen in der Ostukraine, General Wolodimir Krawtschenko, sagte der Kyiv Post, ein Ziel sei dann der weitere Rückzug des Militärs beider Seiten entlang der gesamten Frontlinie. Davor aber müsse auf dem Pariser Gipfel auch über die Ausweitung des Kontroll- und Beobachtermandats für die OSZE als Option gesprochen werden.

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