Süddeutsche Zeitung

Wladimir Putin:Was zählt, sind seine Taten

20 Jahre Wladimir Putin zeigen: Wer mit dem russischen Präsidenten an einem Tisch sitzt, sollte ihn nicht an dem messen, was er sagt. Denn für ihn ist die Wahrheit biegsam.

Kommentar von Silke Bigalke

Vor zwanzig Jahren wurde Wladimir Putin Russlands Präsident. Seither ist er selbst undurchsichtiger, sein Land unfreier und die Welt komplizierter geworden. In Europa wächst die Uneinigkeit darüber, wie man dem Kremlchef begegnen soll. Auf die USA als Partner ist nicht mehr immer und unbedingt Verlass, auf die Einheit Europas auch nicht. Die Nato wird nicht nur in Washington schlechtgeredet. Menschen verlieren das Vertrauen in ihre politischen Systeme. All das verunsichert, und in Europa wird die Frage lauter, ob es in einer solchen Welt nicht zu riskant sei, mit Russland über Kreuz zu liegen. Noch riskanter wäre es allerdings, Putin aus Nervosität über eigene Schwächen nachzugeben. Und die Politik ihm gegenüber zu ändern, während er seine unbeirrt fortsetzt.

Es ist zwar immer richtig, zu reden und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Der Gefangenenaustausch zwischen Russland und der Ukraine am Sonntag zeigt, dass Bewegung möglich ist. Wenn Putin mit am Tisch sitzt, sollte man aber ein paar Dinge nicht vergessen. Erstens: Man muss ihn wie kaum einen anderen an seinen Taten messen, nicht an seinen Worten. Für Putin ist die Wahrheit biegsam. Etwa, als es um die Annexion der Krim ging. Die russische Beteiligung hat er erst geleugnet; ein Jahr später berichtet er davon, wie er selbst den Befehl gab. Oder der ermordete Georgier in Berlin: Erst erstaunt Putin die Bundeskanzlerin mit der Behauptung, Russland habe um dessen Auslieferung gebeten. Zehn Tage später gesteht er, dass es doch nicht so gewesen sei. Putin verunsichert gerne - vor allem darüber, was ihm zuzutrauen ist.

Deswegen ist es zweitens wichtig, den russischen Präsidenten nicht zu überschätzen. Putin weiß, dass der vereinte Westen deutlich stärker ist als Russland, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch. Seine Taktik ist, Schwächen effizient auszunutzen und schlagkräftiger zu erscheinen, als er ist. In Syrien ist ihm das gelungen. Indem er dort Söldner für seine Interessen kämpfen lässt, hält er den Einsatz gering. Ähnliches gilt, wenn er neue Superwaffen vorstellt, deren Praxistauglichkeit erst bewiesen werden muss. Der Effekt ist oft größer als die Sache selbst.

Man darf Putin nicht mächtiger denken, als er ist. Das gibt ihm nur noch mehr Einfluss

Respekt und Vorsicht sind nicht falsch. In der Ukraine und in Syrien zeigt Putin, wie skrupellos er sein kann. Aber: Er ist nicht das Mastermind hinter der Krise des westlichen Liberalismus, er hat nicht den Ausgang der US-Wahlen bestimmt und die Einigkeit der EU untergraben. Ihm kommt das zwar alles gelegen. Er hat auch nichts dagegen, wenn man ihm Kredit dafür gibt. Man darf ihn aber nicht mächtiger denken, als er ist, denn auch das gibt Einfluss.

Genauso falsch wäre es, ihn zu unterschätzen. Putin hat in Russland ein scheinbar demokratisches System geschaffen, mit Regierung, Kabinett, einem Parlament mit zwei Kammern, einer Verfassung, Gerichten. Doch keine dieser Institutionen ist unabhängig. Niemand zieht den Präsidenten zur Verantwortung, wenn er sein Amt missbraucht. Putin hat, trotz Wirtschaftssanktionen, steigender Unzufriedenheit, sinkender Umfragewerte und Protesten die Sache ziemlich gut im Griff. Man kann daher nicht davon ausgehen, dass sich vor Ende seiner Amtszeit 2024 etwas ändert. Womöglich auch danach nicht. Das beste Mittel, ihn auszubremsen, wäre ein Europa, das ihm geschlossen und klar entgegentritt, ohne ihn zu verharmlosen, und ohne ihn zu fürchten.

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SZ vom 30.12.2019/bix
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