Süddeutsche Zeitung

Ukraine-Krise:Putins Optionen

Die russische Armee setzt ihren Aufmarsch nahe der Ukraine fort. Der Kreml schafft sich militärische Handlungsmöglichkeiten - bis hin zu einer groß angelegten Invasion.

Von Matthias Kolb, Brüssel, und Paul-Anton Krüger, Berlin

Russland hat nach Überzeugung westlicher Geheimdienste die vergangenen Wochen genutzt, seine Truppen an den Grenzen der Ukraine weiter zu verstärken und sich militärische Optionen aufzubauen. "Wir gehen davon aus, dass sich mehr als ein Drittel der kampfbereiten russischen Bodentruppen dort befinden", sagte ein hochrangiger Militärexperte der Süddeutschen Zeitung. Die Zahl der Soldaten bezifferte er mit 106 000; darin sind weder Angehörige von Marine oder Luftwaffe eingeschlossen noch die bewaffneten Kräfte der von Moskau kontrollierten Separatisten im Donbass. Diese beziffern westliche Geheimdienste auf 35 000 bis 40 000 Mann.

Die Lage für die Ukraine sei "besorgniserregend" und angesichts der militärischen Überlegenheit Russlands "sehr herausfordernd". Derzeit seien zwischen 55 und 60 taktische Bataillonsgruppen (BTG) in weniger als 300 Kilometer Entfernung zur Grenze zur Ukraine postiert. Im russischen Militär wird so die kleinste Einheit bezeichnet, die eigenständig das Gefecht führen kann. Sie besteht je nach Spezialisierung aus 400 bis 800 Soldaten, dazu kommen Einheiten zur Unterstützung und Logistik.

Bis Februar 2021 waren in demselben Gebiet höchstens 25 dieser Einheiten präsent. Nach Einschätzung westlicher Militärexperten war dies ausreichend, um die Krim, die russischen Gebiete entlang der Grenze und auch die Separatistenrepubliken in der Ostukraine zu verteidigen. Bei einem ersten Truppenaufmarsch im April hatte Moskau 35 bis 40 BTG zusammengezogen, Mitte Dezember lag die Zahl bei knapp 50.

Solche Truppenverlegungen Russlands aus dem Fernen Osten Richtung Ukraine "haben wir zuletzt 1941 gesehen", sagt ein Geheimdienstler

Weitere Bataillonsgruppen werden derzeit aus dem östlichen Militärbezirk durch das ganze Land nach Westen verlegt. "Eine solche Verlegung vom Fernen Osten in Richtung Ukraine haben wir zuletzt 1941 gesehen", sagt ein Geheimdienstler. Sollten die russischen Truppen geschlossen in die Ukraine einmarschieren, sei mit den größten Kämpfen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu rechnen.

Während im Herbst vor allem Artillerie, Raketen sowie Kampfverbände und deren Unterstützungstruppen zusammengezogen wurden, schicke Russland seit Ende Dezember Vorräte an Munition und Material für Feldkrankenhäuser, aber auch Grenzschützer, Einheiten der Nationalgarde sowie Reservisten mit Polizeierfahrung in Richtung Ukraine. Solche Kräfte sind nötig, wenn man Gebiete besetzen will.

Das ukrainische Militär umfasst insgesamt etwa 190 000 Soldaten. 45 000 von ihnen, gut die Hälfte der Landstreitkräfte, sind an der Kontaktlinie zu den Separatistenrepubliken im Osten gebunden. Neben der nummerischen Unterlegenheit fehlt es der Ukraine nach Einschätzung westlicher Militärexperten vor allem an einer wirksamen Luftabwehr. Die russische Luftwaffe könnte eine Bodenoffensive demnach mit massivem Bombardement vorbereiten. Russland hat zudem 36 Raketenwerfer in Reichweite des ukrainischen Territoriums stationiert, die Iskander-Kurzstreckenraketen abfeuern können mit einer nominellen Reichweite von 500 Kilometern.

Der Truppenaufmarsch bietet Russlands Präsidenten Wladimir Putin eine Reihe von militärischen Handlungsoptionen. Die umfassendste wäre eine Invasion an mehreren Fronten, andere die Annexion der Separatistenrepubliken oder der Versuch, militärisch von dort eine Landbrücke zur Krim freizukämpfen. "Ich glaube, dass nur sehr wenige in seinem engsten Umfeld wissen, was Putin denkt und letztlich entscheiden wird," sagte ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter.

Das bedrohlichste Szenario: ein russischer Angriff an gleich drei Fronten

Mit Sorge sehen die Nachrichtendienste, dass Russland an drei Fronten angreifen könnte. Anfang 2021 habe man vor allem Truppenverlegungen im Osten der Ukraine gesehen, nahe Rostow am Don und Woronesch. Diese Städte liegen hinter den Separatistenrepubliken Donezk und Lugansk. Nun würden mehr Soldaten in die Bezirke Belgorod und Kursk verlegt, die nahe der Grenze zu Belarus liegen. Dessen Machthaber Alexander Lukaschenko ist völlig abhängig von Putin.

An gemeinsamen Manövern, die Russland und Belarus für Februar angekündigt haben, nehmen Infanteristen und Spezialeinheiten teil, die für eine Invasion geeignet wären. Hier könnten nochmals 16 BTG eingesetzt werden. Im Baltikum und in Polen ist die Sorge groß, dass diese bleiben. Auch verlegt Russland moderne S-400-Luftabwehrbatterien sowie zwölf Suchoi Su-35-Kampfjets nach Belarus. Ein Angriff auf dieser Flanke könnte Gebieten entlang des Flusses Dnjepr und der Hauptstadt Kiew gelten. "Für die Ukrainer reicht die nördliche Front, die sie verteidigen müssen, faktisch von Lugansk bis nach Polen", sagt der Geheimdienstmitarbeiter.

Ähnlich schwierig ist die Lage im Süden. Von der Krim, die Russland 2014 annektiert hat, könnten russische Soldaten in Richtung der Millionenstadt Odessa vorstoßen und eine amphibische Operation starten, um die Ukraine komplett vom Schwarzen Meer abzuschneiden. "Dazu sind die Russen schon heute in der Lage", sagt der Geheimdienstler. Bedrohlicher wird dieses Szenario jedoch dadurch, dass Moskau sechs Landungsschiffe von Ost- und Nordsee Richtung Schwarzes Meer schickt, wo diese in "einigen Wochen" ankommen dürften. Fotos zeigen, dass sie tief im Wasser liegen - und schwer mit militärischem Gerät beladen sind.

Russland beharrt darauf, keine Invasion zu planen. Dies hat nicht nur US-Präsident Joe Biden angezweifelt - auch unter anderen Nato-Staaten herrscht Konsens, dass weitere Truppenbewegungen und die damit verbundenen hohen Kosten nicht nötig wären, wenn Putin nur eine Drohkulisse aufbauen wolle.

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